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Das Gedächtnis der Libellen

Das Gedächtnis der Libellen

Titel: Das Gedächtnis der Libellen
Autoren: Marica Bodrožic
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mein Leben behielt, den ich selbst schon längst verloren hatte.

33
    Ein Gedächtnis gleicht einem lange verschlossenen Haus. Es gibt unbekannte Zimmer in ihm, Schlüssel, die noch nie benutzt worden sind. Offenbar war Ilja der erste Mensch, der den Schlüssel zu den verstaubten Zimmern in meinem Erinnerungsarchiv besaß. Er gab ihn mir, er gab mir den Schlüssel, ohne es vielleicht selbst zu wissen, dass er dies tat. Ilja hat mich nicht benutzt und nicht bestohlen. Und er hätte alles mit mir tun können, er besaß ja den Schlüssel. Er zog es vor, ihn mir irgendwann zu geben. Und das bedeutete, dass er aus meinem Leben verschwinden musste. Es ging nicht anders. Ich musste lernen, die Bestimmung zu meiden.
    Leben ist nicht Schicksal. Leben ist manchmal das Gegenteil davon. Ich wusste jetzt alles sehr genau, sehr viel über mich selbst. Mein roter Angorapullover war nass von meinen Tränen. Nichts kann ausgelöscht werden. Wir alle müssen lernen, mit uns selbst zu leben. Alles je Geschehene lebt in uns weiter, alles, auch mein Vater in mir, auch alle seine toten Libellen. Ich bin im Besitz des Albums, es enthält meinen wahren Stammbaum. Mein Erbe ist das Erbe vieler unglücklicher und einsamer Menschen. Wo immer ich ein Kind sehe, erinnere ich mich an meinen Stammbaum, an die Kinderfüße, die meinem Vater zum Opfer fielen. Ich habe das Glück oder das Unglück, wie immer man es sehen will, die Erste von uns allen zu sein, die lesen kann: ich lese das Erbe und zeitgleich liest das Erbe mich. Wie kann ich die Linie, diese lange Unglückslinie unterbrechen? Ich weiß es nicht. Vielleicht genügt es, um diese Linie zu wissen.
    Alles was ich weiß, ist, dass ich mit jedem gewonnenen Stückchen Wissen über mich ein Stückchen Wissen über mich verliere. Manchmal bin ich dankbar, endlich kann ich vergessen, und das Vergessen rettet mich, wie ein Mensch mich niemals retten könnte. Als ich einmal durch die Straßen von Chicago ging, dachte ich zum ersten Mal, dass ich nur ich selbst bin, dass mich nichts mit anderen verbindet. Mein Körper gehörte endlich nur mir. Ich war ein Mensch ohne Geschichte. Und ich konnte plötzlich jeden verstehen, der nach Amerika gegangen war und genau wie ich ohne Geschichte ein neues Leben mit einer neuen Geschichte anfing. Ich verstand meine Großeltern, meine Mutter, sogar meinen Vater. Ich verstand Ilja und seine Frau, die immer seine Frau bleiben würde. Und ich bewunderte ihn, für seinen Mut, sich dieser Stadt und dieser Geschichtslosigkeit gestellt zu haben und dass er offen genug war, sich selbst zu vergessen. Aber vielleicht habe ich alles wieder nur auf andere abgeschoben, was ich an mir selbst gefühlt hatte, vielleicht hatte ein anderer mir wieder geholfen, meinen Wünschen nicht in die Augen zu sehen, weil ich nicht merken wollte, dass das Glück in keiner Suche zu finden sein würde, nicht jetzt, nicht später, niemals, nicht davor, nicht danach, dass das Glück niemals etwas sein würde, was in der Zukunft liegt. Nichts also, das man finden kann.

    Das Glück ist barfuß und war immer nur im Jetzt zu finden. Dieses Jetzt entzog ich mir selbst, indem ich an Ilja dachte und ihn für irgendetwas liebte, das ich mutig fand, sei es auch nur, dass er in dieser oder jener Stadt gelebt hatte, diese oder jene Straße entlanggegangen war, dass er hier sprachlos war, ein heimatloser Spaziergänger, der nirgendwo sonst ein Dach über dem Kopf hatte – und wenn ich auch damals vor mir selbst davongerannt bin, hat es doch alles gestimmt, man braucht Mut, um ortlos zu sein, und es ist leichter, auf Heimat zu verzichten, wenn man Menschen hat, die zu einem gehören, eine Adresse, eine feste Telefonnummer, unter der die anderen einen anrufen, selbst wenn man seit Jahren nicht mehr im Telefonbuch steht. Exil ist heute nicht das Fortgehen an sich, im Exil ist jeder, der in seiner Stadt nicht auf der Straße gegrüßt wird. Unsere Städte sind voll von Namenlosen, wir sind einander verdächtig, wenn wir uns in U-Bahnen und am Flughafen anlächeln. Irgendwann werden sie die Lächelnden einsperren, weil sie nicht ernst genug und abwesend genug waren. Nur die Liebenden wird man immer leben lassen (wenn sie sich selbst als Liebende gestatten), leben lassen müssen, weil sie die einzigen Uneinsichtigen sind, weil sie immer wieder lächeln können, immer wieder neu lieben können, auch wenn sie tausend Mal gelernt haben, dass Liebe wehtut. Sie wissen, sie können nicht leben ohne die Liebe. Sie
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