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Das Fuenfte Evangelium

Das Fuenfte Evangelium

Titel: Das Fuenfte Evangelium
Autoren: Philipp Vandenberg
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ging.
3
    D ie unsagbare Trauer, der Schmerz und die Leere, die Guidos Tod in ihr hervorgerufen hatte, schienen auf einmal wie weggefegt, ja, sie erlebte einen Gefühlswandel ungewöhnlichster Art: Schmerz, der sich in der Regel erst nach Jahren verflüchtigt, schlug bei Anne von einer Stunde auf die andere um in Verbitterung, ja, auf einmal empfand sie Haß gegen den Mann, den sie am Tag zuvor zu Grabe getragen hatte. Zehn Jahre Ehe, vermeintliches Glück, stürzten plötzlich in sich zusammen wie ein abrißreifes Gebäude unter der Gewalt der Bulldozer. Ihr war, als hätte sie ihren Mann zweimal verloren, einmal vor wenigen Tagen – und dann jetzt.
    Auf dem Heimweg, den Anne in einem Taxi zurücklegte, wurden Erinnerungen wach, Gedanken, Erlebnisse, die nun auf einmal einen Sinn ergaben. Ihre linke Hand krallte sich in den Handgriff der fremden Tasche, als sammelte sie Kraft für einen furchtbaren Angriff. Mit der anderen wühlte sie in ihrem Mantel nach dem Zettel, den ihr der Arzt in der Klinik gegeben hatte: Hanna Luise Donat, Hohenzollern-Ring 17.
    Anne biß sich auf die Unterlippe. Das tat sie immer, wenn sie wütend war. Dann hielt sie dem Taxifahrer den Zettel vors Gesicht. »Fahren Sie mich zum Hohenzollern-Ring 17.«
    Das Haus im Osten der Stadt war nicht die feinste Adresse, machte aber, soweit man in der Dämmerung erkennen konnte, einen gepflegten, gediegenen Eindruck. Ein graugestrichenes Eisentor in der Gartenmauer trug ein ovales Messingschild ohne Namen. Anne zögerte keinen Augenblick. Sie drückte auf den Klingelknopf. Im Inneren des Hauses, das etwas zurücklag, brannte Licht, und kurz darauf erschien ein kleiner, dicklicher Mann in der Tür.
    »Bin ich hier richtig bei Hanna Luise Donat?« rief Anne dem Mann entgegen. Der kam ihr, ohne zu antworten, mit einem Schlüssel entgegen, schloß das graue Gartentor auf, streckte die Hand aus, an deren Zeigefinger das oberste Glied fehlte, und sagte, während er sich mit ungeschickter Höflichkeit verneigte: »Donat. Sie wollen zu meiner Frau. Bitte!«
    Die Bereitwilligkeit, mit der der Mann, ohne zu fragen, was sie denn überhaupt wolle, Anne einließ, versetzte sie in Verwunderung, aber in ihrer Wut ging sie darüber hinweg, im Augenblick kannte sie nur ein Ziel: Sie wollte diese Frau sehen.
    Donat bat Anne in ein spärlich möbliertes Zimmer mit zwei alten Schränken und einem schwülstigen Bild aus der Jahrhundertwende: »Bitte gedulden Sie sich einen Augenblick!«
    Er verschwand hinter einer der hohen, mit heller Ölfarbe gestrichenen Türen. Nach einer Weile kehrte er zurück, hielt die Tür auf und bat Anne herein.
    Natürlich hatte Anne eine Vorstellung von der Frau, die sie in dem Zimmer erwarten würde. Sie erwartete eine Schlampe mit hochtoupierten Haaren und grell geschminkten Lippen, pummelig an den typischen Stellen, eben wie man sich eine vorstellt, die sich mit einem verheirateten Mann einläßt, und bei dieser Vorstellung wuchs ihre Wut.
    Sie hatte sich die Begegnung minutiös ausgemalt; vor allem hatte sie sich geschworen, ruhig zu bleiben, kühl und zynisch, denn nur so konnte sie die fremde Frau verletzen. Ich bin Anne von Seydlitz, wollte sie sagen, die Ehefrau, und daß sie schon immer einmal das Frauenzimmer kennenlernen wollte, mit dem Guido seine angeblichen Dienstreisen verbracht hatte. Sie wollte sie einladen, die blutverschmierten Kleidungsstücke ihres Mannes abzuholen – zur Erinnerung sozusagen. Aber dann kam es doch ganz anders.
    In der Mitte des Raumes, der mit Grünpflanzen verstellt war, saß eine Frau, wohl etwa im selben Alter wie sie. Sie saß starr wie eine Statue, die Beine in eine Decke gehüllt, sie saß in einem Rollstuhl. Alle Bewegungen, die ihr der Körper vom Hals abwärts offenbar verweigerte, spiegelten sich in ihrem schönen Gesicht wieder.
    »Ich bin Hanna Luise Donat«, sagte die Frau im Rollstuhl freundlich, und mit einer leichten Neigung des Kopfes bedeutete sie der Besucherin, näher zu treten.
    Anne stand wie angewurzelt. Ihr, die sonst eigentlich nie um eine Antwort verlegen war, fehlten in diesem unvorhersehbaren Augenblick die Worte. So kam es, daß die gelähmte Frau, offenbar an Situationen wie diese gewöhnt, mit betont ruhiger Stimme sagte: »Bitte, nehmen Sie doch Platz!« Und nach einem weiteren Augenblick, in dem nichts geschah, fügte sie, nun etwas drängender, hinzu: »Wollen Sie mir nicht sagen, was Sie zu mir führt, Frau …«
    »Seydlitz«, ergänzte Anne. Sie vermochte ihre
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