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Max Weber: Ein Leben zwischen den Epochen (German Edition)

Max Weber: Ein Leben zwischen den Epochen (German Edition)

Titel: Max Weber: Ein Leben zwischen den Epochen (German Edition)
Autoren: Jürgen Kaube
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WARUM UNS MAX WEBER INTERESSIEREN SOLLTE
    V on Immanuel Kant gibt es den Satz, der Mensch sei «Bürger zweier Welten». Das hieß für Kant, dass wir frei sind und zugleich unfrei. In der einen Welt handeln wir spontan, in der anderen sind wir Ursachen unterworfen: sozialen Bedingungen, Trieben, natürlichen Anlagen. Bürger zweier Welten kann man aber auch historisch sein. Zum Beispiel, wenn man in einer Welt aufwächst, in der dem Bürgertum die Zukunft zu gehören scheint, und als Erwachsener in eine Welt eintritt, in der es seinem vermeintlichen Untergang entgegensieht. Wer das «Bürgertum» als geschichtliche Größe festhält, kommt dann nicht umhin, es zugleich als mächtig und ohnmächtig zu beschreiben. Eine andere Möglichkeit, sich als Bürger zweier Welten zu fühlen, ergibt sich, wenn man in einer Gesellschaft aufwächst, die sich als Nationalstaat definiert und als christliche Kultur versteht, und zwanzig Jahre später der Nationalstaat sozialen Kräften ausgesetzt wird, die keine Rücksicht auf ihn nehmen, und die christliche Kultur bloß noch eine schwache Erinnerung ist. Oder nehmen wir etwas vergleichsweise Privates: Jemand heiratet unter Umständen, in denen Familien nicht mit jeder Ehe neu gegründet werden, sondern in denen die Ehen bereits existierende Familien fortsetzen. Heute würden wir von «arrangierten Heiraten» sprechen. Eheliche Treue gilt als selbstverständlich; wer offensiv von dieser Norm abweicht, hat Anspruch darauf, als Emma Bovary oder Effi Briest in die Literatur einzugehen. Und die unter solchen Umständen heiratende Person gerät nun wenige Jahre darauf in eine Welt, in der Ehebruch erwartbar ist, in der einige das Ausleben sexueller Bedürfnisse sogar zum Programm erheben und in der diese Person ihre eigene Ehe sowohl fortsetzt wie bricht.
    Der Jurist, Nationalökonom, Historiker und Soziologe Max Weber war ein solcher «Bürger zweier Welten». Er lebte von 1864 bis 1920 und war der vielversprechendste Gelehrte seiner Generation, ein Exponent der protestantischen, preußischen, großbürgerlichen Elite. Am Ende seines Lebens war von der Welt, in die er hineingeboren wurde, nichts mehr übrig, und er hinterließ ein riesiges Werk – vor allem in Fragmenten, Dutzenden von wissenschaftlichen Aufsätzen, unpublizierten Büchern, Reden, Plänen. Viele sagen, er habe die Soziologie als Fach mitbegründet. Aber aus dem Verein der Soziologen, den er mitgegründet hat, trat er sofort wieder aus. Für viele sind die Worte «Rationalität», «Wertfreiheit» und «entzauberte Welt» mit seinen universalhistorischen Studien verbunden. Für andere war er ein fanatischer Nationalist, ein schillernder politischer Denker, der sich charismatische Führer an der Spitze der Demokratie wünschte und von der «Wiederkehr der alten Götter» in der Nacht der Moderne raunte. Beide Beschreibungen treffen zu. Er lebte im Zeitalter des Nationalstaats und in dem seiner Krise, in der Welt des historischen Gelehrtentums und in der Welt der ästhetischen Avantgarden, in der Welt der Gründerzeit und in der Welt der politischen Extreme.
    1864 , im Jahr der Geburt von Max Weber, wird Ludwig  II . zum König von Bayern proklamiert. Jacques Offenbach bringt in Paris seine «Schöne Helena» heraus. In London wird unter Vorsitz von Karl Marx die «Erste Internationale» gegründet. Der amerikanische Bürgerkrieg tobt, den Konföderierten gelingt der erste erfolgreiche U-Boot-Angriff der Militärgeschichte, und der Begriff «Abnutzungskrieg» kommt zum ersten Mal auf. Jules Verne publiziert seine «Reise zum Mittelpunkt der Erde». In der Enzyklika «Quanta Cura» verurteilt Papst Pius  IX . die Religionsfreiheit sowie die Trennung von Kirche und Staat und fügt unter dem Titel «Syllabus Errorum» einen Anhang hinzu, der die Meinungsfreiheit, den Pantheismus, Sozialismus und Kommunismus, Liberalismus und Indifferenz als Irrtümer bezeichnet. In Japan bereitet sich die Meji-Restauration vor, die das Land zurück zum alten Kaisertum bringen will und die Herrschaft des Kriegeradels beendet, damit letztlich aber das Land verwestlichen wird.
    1920 , im Todesjahr Max Webers, tritt der Friedensvertrag von Versailles in Kraft, gut einen Monat später wird im Münchner Hofbräuhaus die NSDAP gegründet. Im sogenannten Kapp-Putsch versuchen nationalkonservative Kreise die Reichsregierung in Berlin zu stürzen. Der Film «Das Kabinett des Dr. Caligari» von Robert Wiene kommt auf die Leinwand. In Paris
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