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Das Fuenfte Evangelium

Das Fuenfte Evangelium

Titel: Das Fuenfte Evangelium
Autoren: Philipp Vandenberg
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aus ihrer Kindheit kam ihr in den Sinn, wenn sie sich manchmal gewünscht hatte, ein Zauberspruch könne ein Erlebnis vergessen machen und alles sei so wie vorher.
    Sie hatte nie darüber nachgedacht, wie das sein würde, wenn einem von ihnen etwas zustieße. Sie liebte Guido, und Liebe fragt nicht nach dem Ende; aber jetzt erkannte sie das Törichte dieser Haltung. Auf einen Anruf wie diesen war sie einfach nicht vorbereitet: »Es tut uns leid, wir müssen Ihnen eine traurige Mitteilung machen. Ihr Mann hatte einen schweren Unfall. Machen Sie sich auf das Schlimmste gefaßt.«
    Wie im Traum war Anne zum Klinikum gerast. Sie wußte nicht, auf welchem Weg sie hierhergelangt war, wo sie den Wagen geparkt hatte; unfähig, einen klaren Gedanken zu fassen, hatte sie zwei oder drei Weißkitteln »Intensivstation?« entgegengerufen und war schließlich hier auf diesem grell erleuchteten Korridor gelandet, wo die Zeit endlos schien.
    Sie erschrak, als sie sich dabei ertappte, wie sie in Gedanken das Haus neu einrichtete und das Antiquitätengeschäft verkaufte, wie sie den Entschluß faßte, erst einmal eine Weltreise zu machen – um Abstand zu gewinnen. Guido war nie zu einer Weltreise zu bewegen gewesen. Er haßte die Fliegerei.
    Mein Gott! Anne sprang auf, sie schämte sich wegen dieser Gedanken und ging unruhig, die Hände in den Taschen ihres Mantels vergraben, auf und ab. Die lässige Geschäftigkeit, mit der Kittelträger an ihr vorbeihuschten, ohne ihr einen Blick zuzuwerfen, wirkte provozierend, und es hätte nicht viel gefehlt, und Anne wäre auf eine der geschäftigen Schwestern losgegangen und hätte sie angeschrien, es gehe um das Leben ihres Mannes, ob sie das nicht begreife.
    Dazu kam es aber deshalb nicht, weil im selben Augenblick ein hagerer Mann mit verschmutzter randloser Brille aus einer Tür trat. Er nestelte, während er auf Anne zukam, an einem grünen Mundschutz, der um seinen Hals hing, dann wischte er sich mit dem Oberarm über die Stirn.
    »Frau von Seydlitz?« fragte er tonlos.
    Anne fühlte, wie sich ihre Augen weiteten, wie das Blut in ihren Kopf schoß. In den Ohren pochte es. Das Gesicht des Arztes verriet keine Regung.
    »Ja«, preßte Anne leise hervor. Ihre Kehle war trocken und spröde.
    Der Arzt stellte sich vor; aber noch während er seinen Namen nannte, änderte sich der Tonfall seiner Stimme und verfiel in den Singsang eines Leichenbestatters. Das folgende hatte er schließlieh schon viele Male von sich gegeben: »Es tut mir leid. Für Ihren Mann kam jede Hilfe zu spät. Es mag in dieser Situation ein schwacher Trost für Sie sein, wenn ich sage, es ist vielleicht besser so. Ihr Mann wäre vielleicht nie mehr zu sich gekommen. Die Schädelverletzungen waren zu schwer.«
    Zwar nahm Anne noch wahr, daß der Arzt ihr die Hand reichte, aber in ihrer hilflosen Wut drehte sie sich um und ging. Tot. Zum ersten Mal begriff sie die Endgültigkeit dieses Wortes.
    Im Lift roch es nach Küche wie in allen Klinikaufzügen. Angeekelt ergriff sie die Flucht, kaum daß die Aufzugtüren sich geöffnet hatten.
    Nach Hause nahm sie ein Taxi. Sie war nicht in der Lage, sich selbst ans Steuer zu setzen. Dem Fahrer hielt sie wortlos einen Schein hin, dann verschwand sie im Haus. Fremd, kalt und abweisend erschien ihr auf einmal alles. Sie entledigte sich ihrer Schuhe, hastete die Treppe empor in ihr Schlafzimmer und ließ sich auf das Bett fallen. Dann endlich weinte sie.
    Das geschah am 15. September 1961. Drei Tage später wurde Guido von Seydlitz auf dem Waldfriedhof beerdigt. Am Tage darauf begannen die – nennen wir es zunächst einmal – Merkwürdigkeiten.
2
    D amit Anne von Seydlitz nicht von vornherein in falschem Licht erscheint, was dem wahren Gehalt der Geschichte nur abträglich wäre, muß man zunächst ein paar Worte über diese Frau verlieren. Anne Seydlitz gebrauchte nie das von ihrem Mann angeheiratete Adelsprädikat. Ihrem Mann als Kunsthändler mochte der Titel bisweilen von Nutzen sein, aber Anne machte sich eher lustig über den im 19. Jahrhundert verliehenen ›Werksadel‹. Damals wurden verdienstvolle Unternehmer von einem Tag auf den anderen in den Adelsstand erhoben, und dieser fragwürdige Vorgang brachte dann so kuriose Geschlechter wie das derer von Müller oder jenes derer von Meyer hervor.
    Anne verfügte über genug Selbstbewußtsein, als Frau Seydlitz durchs Leben zu gehen, denn Bildung und eine herbe Schönheit hatten sich in ihr auf so faszinierende Weise verbunden,
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