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Das Fuenfte Evangelium

Das Fuenfte Evangelium

Titel: Das Fuenfte Evangelium
Autoren: Philipp Vandenberg
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Aufregung nicht zu unterdrücken, wühlte in ihrer Manteltasche den Zettel hervor und las, was in dieser Situation in gewisser Weise komisch wirkte: »Hanna Luise Donat, Hohenzollern-Ring 17.«
    »Richtig«, kommentierte die Frau im Rollstuhl, und der Mann trat hinter sie und schob die Gelähmte näher an die Besucherin heran.
    Anne stammelte ein paar entschuldigende Worte: offensichtlich sei sie einem Irrtum aufgesessen, aber man habe ihr in der Klinik diesen Namen und diese Adresse gegeben, eine Frau gleichen Namens sei im Unfallwagen ihres Mannes gesessen und nach dreitägigem Klinikaufenthalt nach Hause entlassen worden.
    »Dieses Mißverständnis«, gab der Mann zu bedenken, »kann doch Ihr Mann sehr leicht klären.«
    »Er ist tot«, stellte Anne nüchtern fest.
    »Verzeihen Sie, es tut mir leid, das konnte ich nicht wissen.«
    Anne nickte. Wie immer sie die Situation überdachte, diese Frau konnte weder die Beifahrerin im Auto noch die Patientin in der Klinik gewesen sein. Aber während sie die Situation als mysteriös, um nicht zu sagen unheimlich empfand, zeigten sich die beiden an dem Geschehen der letzten Tage äußerst interessiert. Noch ehe Anne in ein längeres, erklärendes Gespräch verwickelt werden konnte, drückte sie dem Mann die Tasche in die Hand, und sie verabschiedete sich schneller, als der Takt es geboten hätte.
4
    I n dieser Nacht fand Anne keinen Schlaf. Sie wandelte durch das große Haus wie ein Gespenst auf erfolgloser Suche nach seiner Seele. In einen langen weißen Hausmantel gehüllt, setzte sie sich auf die Treppe, die zu ihrem Schlafzimmer führte, und versuchte auf all das einen Reim zu finden. Manchmal glaubte sie zu träumen; dann lauschte sie den fernen Geräuschen der Nacht. Sie war darauf gefaßt, daß sich jeden Augenblick ein Schlüssel im Schloß drehte und Guido ins Haus träte, so wie er es immer getan hatte, aber es geschah nichts, und alsbald erreichte ihr Delirium jenen gefährlichen Grad von Rausch, der zwischen Trug und Wahrheit nicht mehr zu unterscheiden weiß.
    Anne erschrak, als sie sich dabei ertappte, wie sie vor der Tür von Guidos Schlafzimmer stand, mit der flachen Hand gegen den Rahmen schlug und ihren Mann einen Hurenbock schimpfte und mit weiteren ähnlichen Schimpfwörtern bedachte, als habe dieser sich in seinem Zimmer eingeschlossen.
    Das Geschehen der letzten Tage war einfach zuviel für sie gewesen. Heulend wie ein Kind sank sie vor der Tür auf die Knie und gab sich ihrer Wut hin. Ja, Annes Tränen waren keine Tränen des Schmerzes, weil sie ihren Mann verloren hatte, Anne heulte vor Wut – über ihn und seine Dreistigkeit und über ihre eigene Naivität, ihr blindes Vertrauen, das sie Guido entgegengebracht und das dieser schändlich mißbraucht hatte.
    Von Wesensart und Charakter war Anne durchaus belastbar, unerträglich erschien ihr jedoch die Vorstellung eigener Dummheit; denn Anne von Seydlitz war eine ungewöhnlich kluge Frau, eine Frau, die es immer verstanden hatte, diese Klugheit zielgerecht einzusetzen. Nichts haßte sie mehr als Dummheit, und nun, ein Opfer ihrer eigenen Dummheit, haßte sie sich selbst.
    Wuttränen klebten wie Sirup im Gesicht. Eigentlich schämte sie sich vor sich selbst. Sie konnte sich nicht erinnern, sich jemals so gehengelassen zu haben, nicht einmal in der Zeit, die sie als Kind in einem Waisenhaus verbracht hatte.
    Im Badezimmer lag der Plastiksack, den man ihr in der Klinik übergeben hatte. Sie erkannte Guidos Uhr, eine goldene Hamilton aus dem Jahre 1921, Guidos Geburtsjahr. Er hatte sie auf einer Auktion erstanden. An der Unterseite war eine Widmung eingraviert: Syd to Sam 1921. Anne riß den Beutel auf, zog den blutverschmierten Anzug hervor und breitete Hose und Sakko wie die Figur eines Hampelmannes aus. Und wie er so dalag, der Anzug, den er mit Vorliebe getragen hatte, begann Anne mit bloßen Füßen auf den Kleidungsstücken herumzutrampeln, als wollte sie Guido weh tun. Als wollte sie ein Geständnis aus ihm herauspressen, stampfte sie wild auf den Boden des Badezimmers, gab sie schnaubende Laute von sich und stieß immer wieder dasselbe Wort hervor: »Betrüger – Betrüger – Betrüger!«
    Bei ihrem orgiastischen Tanz hatte sie in dem Sakko Widerstand gespürt. Unerwartet zog Anne Guidos Brieftasche hervor. Sie atmete heftig, als sie ein Bündel Geldscheine aus der Tasche nahm. Den weiteren Inhalt kannte sie: Kreditkarten und Fahrzeugpapiere. Aber während sie die Scheine mechanisch zu zählen
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