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Das Fuenfte Evangelium

Das Fuenfte Evangelium

Titel: Das Fuenfte Evangelium
Autoren: Philipp Vandenberg
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prüfend an.
    Die Sekunden, in denen ich mich in den Illustriertenbericht vertiefte, bereiteten dem Unbekannten offensichtlich Vergnügen; ich spürte seinen Blick auf mich gerichtet und fühlte, wie er jede meiner Regungen verfolgte, als erwarte er einen Ausruf des Erstaunens. Aber nichts dergleichen geschah. Der Artikel berichtete von einem Reporter der Illustrierten, der im Algerienkrieg umgekommen war, und zeigte Fotos aus seinem Leben und das Bild eines scheußlich zugerichteten Leichnams. Ich war ziemlich ratlos.
    »Sie werden das nicht begreifen«, meinte er schließlich, »es hat lange gedauert, bis ich es selbst kapiert habe. Und ganz gewiß ist das die wahnsinnigste Geschichte, die Sie je gehört haben.«
    Ich erwiderte, ich sei schon mit unbegreiflichen Geschichten konfrontiert worden, das Gewöhnliche sei nur selten Sache eines Schriftstellers. Und ich verwies meinen Gast auf jenen gelähmten Mönch im Rollstuhl, der mir vor Jahren einmal seine Lebensgeschichte erzählte und mit eindringlichen Worten erklärte, warum er sich in selbstmörderischer Absicht aus einem Fenster des Vatikans gestürzt hatte. Dieses sein Leben hätte ich in meinem Buch ›Sixtinische Verschwörung‹ beschrieben, aber noch vor dem Erscheinen des Buches sei der Gelähmte aus seinem Kloster verschwunden, und sein Abt habe standhaft behauptet, einen Mönch in einem Rollstuhl habe es in seinem Kloster nie gegeben; dabei, betonte ich, seien wir uns dort mehrere Tage gegenübergesessen.
    Es wäre besser gewesen, ich hätte davon nicht berichtet; denn der Mann hatte es auf einmal eilig und meinte, er müsse, bevor er bereit sei auszupacken, sich alles noch einmal durch den Kopf gehen lassen, und wir sollten uns am folgenden Tage im Café ›La Flore‹ am Boulevard Saint-Germain treffen, wo im übrigen viele Schriftsteller verkehrten.
    Um es vorwegzunehmen: Meinen Kaffee im ›La Flore‹ trank ich allein, und ich muß gestehen, es überraschte mich nicht einmal. Offenbar hatte den Unbekannten angesichts der Vorstellung, sein Schicksal könnte als Buchvorlage dienen, der Mut verlassen. Das aber bestärkte mich in meiner Auffassung, daß das, was der Mann mit sich herumtrug, über das persönliche Schicksal eines einzelnen Menschen weit hinausging.
    Alle großen Geheimnisse der Menschheit haben einen unscheinbaren Ursprung. Ich witterte hinter dem Schicksal des fremden Mannes ein solches Geheimnis. Daß es von so fundamentaler Bedeutung sein würde, konnte ich zu diesem Zeitpunkt noch nicht ahnen, auch nicht die Tatsache, daß der Fremde mit der Papageiblume in diesem Drama nur eine Nebenrolle spielen würde. Die Hauptrolle, das sei vorweggenommen, spielte jene Frau auf dem Friedhof, von der ich nur den Vornamen kannte: Anne.
    Doch ich hatte eine Spur, den Artikel in der Illustrierten. Eine Fährte führte nach München, eine zweite zurück nach Paris, dann überschlugen sich die Ereignisse in meinen Recherchen. Rom, Griechenland und San Diego waren weitere Stationen, und langsam, ganz allmählich, wurde mir klar, warum der Unbekannte Hemmungen hatte, mir seine Geschichte anzuvertrauen.
    Den Friedhof habe ich noch einige Male besucht, aber dem fremden Mann bin ich nie mehr begegnet.

Erstes Kapitel
    O RPHEUS UND E URYDIKE todbringend
1
    U m sie herum war alles weiß, und als schmerzten die weißen Wände, der weiße Boden, die spiegelblanken weißen Türen und die grellen Neonröhren an der Decke, vergrub Anne ihr Gesicht in den Händen. Sie begriff gar nichts. Sie hatte nur das Wort ›Koma‹ gehört und daß es schlecht um ihn stehe. Eine geschlechtslose Gestalt im weißen Kittel hatte sie auf diesen Stuhl gedrückt und einfühlsam wie eine Flugbegleiterin, die mit den Vorschriften für den Notfall vertraut macht, erklärt, die Ärzte täten ihr Bestes, das könne dauern, sie möge das Formular ausfüllen und unterschreiben.
    Das Blatt lag neben ihr auf dem Boden. Von Zeit zu Zeit öffnete sich eine der glänzenden Türen. Gummisohlen quietschten über den langen Gang und verschwanden in einer anderen Tür. Von irgendwoher drang der Rhythmus einer stampfenden Maschine, es roch nach Karbol, und die Wärme war beinahe unerträglich.
    Anne blickte auf, sie holte tief Luft, öffnete ihren dünnen Mantel, lehnte sich mit geschlossenen Augen auf dem Stuhl zurück und verschränkte die Arme. Ihre Lippen zitterten, und sie fühlte einen Schmerz, den sie nicht lokalisieren konnte; sie ahnte, daß ihr Leben auseinanderbrach, und ein Gedanke
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