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019 - Bei Vollmond wird gepfählt

019 - Bei Vollmond wird gepfählt

Titel: 019 - Bei Vollmond wird gepfählt
Autoren: Dämonenkiller
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Der alte Mann sah zum bleichen Mond empor, der hin und wieder zwischen jagenden Wolkenfetzen auftauchte. Die Mondscheibe hatte sich fast gerundet. Der Alte blickte mit einem Ausdruck des Entsetzens zu ihr hinauf, als sähe er statt des vertrauten Gefährten der Nacht einen drohenden Totenkopf dort am Himmel.
    Windböen brachten kalte Regenschauer, aber der Alte ging nicht hinein in das verwitterte Haus mit der grauen Fassade, das abseits von den anderen am Rand des unbebauten Feldes stand. Er ballte die dürre, knochige Hand und schüttelte sie in dumpfer Verzweiflung. Ein Schluchzen entrang sich seiner Kehle.
    Da hörte er einen leisen Singsang. Er zuckte zusammen. Langsam schritt er zu der Hecke, die das Grundstück umgab. Die Hecke war mit Stacheldraht durchzogen; ein rostendes Eisentor schloß die Einfahrt ab. Vor dem Eisentor stand eine seltsame Gestalt, die leise sang. Der Alte schlurfte näher, betrachtete den Fremden eine Weile und öffnete dann das eiserne Tor. Es quietschte in den Scharnieren, jämmerlich und mißtönend.
    »Phillip?« fragte er mit brüchiger Stimme. »Ist es wirklich wahr? Du kommst zu uns?«
    Es war schon spät, fast dreiundzwanzig Uhr. Einige Querstraßen entfernt fuhren auf der Fulham Road trotz des schlechten Wetters viele Autos vorbei.
    Der Alte führte den späten Besucher ins Haus. Der Besucher trug nur eine dünne Jacke, ein Seidenhemd und eine dunkle Hose. Sein Gesicht war sehr bleich, feingeschnitten und von mädchenhafter Zartheit und Schönheit. Das lange, blonde Haar hing jetzt in nassen Strähnen auf die mageren Schultern herab.
    Als der alte Mann in einer muffigen Stube im Erdgeschoß Licht machte, sah man, daß Phillips Augen golden schimmerten. Der Alte schob ihn ins Zimmer. Unter der dünnen, regennassen Jacke des Besuchers rundeten sich zarte Brüste. Eine Aura des Unwirklichen, Übernatürlichen umgab seine Erscheinung. Man spürte sofort, daß sein Geist nicht nur in dieser Welt wohnte. Phillip war ein Zwitterwesen, halb Mann, halb Frau, zwischen dieser Welt und den Sphären, die dem Wahnsinn und dunklen, dämonischen Mächten vorbehalten sind, hin und her pendelnd.
    »Phillip ist zu uns gekommen, Liza«, sagte der alte Mann.
    Nichts regte sich im Zimmer. Auf der Lehne des hohen Sessels am Fenster lag eine runzelige, knöcherne Greisenhand.
    Auf dem Tisch lagen mehrere Utensilien, die in diesem altertümlich eingerichteten Raum fremdartig wirkten: Ein silbernes Kreuz, eine Kette aus Knoblauchzehen und ein langer, an einem Ende zugespitzter Pflock. Daneben stand in einem silbernen Rahmen ein Bild, das zwei fröhliche Kinder – ein Mädchen und einen kleinen Jungen – zeigte.
    Aus dem Sessel erhob sich jetzt eine uralte Frau. Sie war sicher noch zehn Jahre älter als der Mann, der mindestens achtzig Jahre zählte. Die Frau war klein, gebeugt und zerbrechlich, ihr Gesicht eine Landschaft aus Runzeln.
    »Phillip«, murmelte sie. »Erkennst du mich denn?«
    Ein Lächeln umspielte die vollen, feingeschwungenen Lippen des Hermaphroditen. Seine grazile Hand strich über den schlohweißen Scheitel der Greisin.
    Tränen füllten ihre Augen. »Er weiß alles, wenn er sich auch nicht ausdrücken und reden kann«, sagte die alte Liza. »Weshalb er uns wohl besuchen kommt, Jimmy?«
    Der Blick des Alten huschte zu dem Pflock, dem Kreuz und der Knoblauchkette auf dem Tisch. »Es ist bald wieder Vollmond«, sagte er. »Es wird wieder geschehen. Oh, wie hasse ich die bleiche, grinsende Scheibe des Mondes, die mir höhnisch verkündet, daß der Fluch bald wieder über dieses Haus kommen wird – der Fluch des Hauses Kane.«

    Septemberregen trommelte gegen die Fensterscheiben der Jugendstilvilla in der Baring Road. Die herbstlich gelb und braun gefärbten Bäume und Büsche im großen, parkähnlichen Garten, der die Villa umgab, hingen schlaff herunter; es war ein trostloser düsterer Nachmittag.
    Dorian Hunter saß am Schreibtisch und starrte aus dem Fenster. Er konnte sich nicht auf die Papiere konzentrieren, die vor ihm lagen. Auch er wurde von der Melancholie ergriffen, die mit dem Absterben der Natur im Herbst verbunden ist, mit dem Fallen der Blätter, den immer kürzer werdenden, kalten und regnerischen Tagen, dem Nebel und dem Sturm.
    An sich hätte er zufrieden sein können. Olivaro hatte im Moment genug mit den übrigen Mitgliedern der Schwarzen Familie zu tun, weshalb die Inquisitionsabteilung zur Zeit ohne große Arbeit war – wenn es auch nur eine Atempause im Kampf
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