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Das fremde Jahr (German Edition)

Das fremde Jahr (German Edition)

Titel: Das fremde Jahr (German Edition)
Autoren: Brigitte Giraud
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wieder, seine Hände erforschen erneut mein Gesicht, meine Schultern und meine Haare, die er mit einem fast wilden Eifer streichelt. Wir stehen nicht länger in einem Winkel meines Zimmers, wo er seinen Atem über mich hinwegbläst, sondern er fordert mich auf, mich auf dem Bett auszustrecken, während er sich auf die Bettkante setzt, manchmal auch auf den Bettvorleger kniet. Danach geschieht das Übliche, Herr Bergen nimmt seinen Kopf zwischen die Hände, wie am ersten Abend, ich denke schon, dass er mich vergessen hat, aber nein – irgendwann blickt er wieder auf und betrachtet mich, eingehüllt in meinen dicken Pullover. Da sitzt er, etwas nachlässig gekleidet, die Hemdzipfel hängen aus seiner Hose, doch es ist ihm offenbar egal, wie er aussieht, er achtet nicht auf sein Äußeres, nur einmal habe ich einen Herrenduft an ihm gerochen, mit dem er sich offenbar eingesprüht hatte, ehe er zu mir herunterkam. Damals, als er mich richtig angewidert hat. Zum Glück lief auf meinem kleinen Kassettenrekorder gerade die Musik von
Joy Division
und ich habe mich in die Stimme von Ian Curtis geflüchtet, mich an jeden seiner Töne geklammert, innerlich die Worte
I lost control
mitgesummt und mir gedacht, dass diese Worte vermutlich eine Warnung waren. Und deshalb nahm ich mir vor, auf keinen Fall den Boden unter den Füßen zu verlieren. Nichts passiert, Herr Bergen sitzt wie ein Teenager auf meinem Bettvorleger, doch dann wird mir kalt, und das lenkt seine Aufmerksamkeit wieder auf mich. Er reibt mir die Schultern, um mich zu wärmen, und sagt, ich solle mich unter die Decke legen. Herr Bergen bleibt nie lange, unweigerlich kommt der Moment, an dem er überstürzt geht, als müsse er sich retten, als hätte er plötzlich Angst. Er nähert seine Lippen meiner Schläfe, flüstert mir einige Worte ins Ohr, die ich niemals verstanden habe, etwas, das mit »Nacht« aufhörte. Vielleicht wünscht er mir nur eine »Gute Nacht«, aber sein Tonfall gibt mir zu verstehen, dass das, wovon er spricht, vermutlich völlig nichtssagend ist; eines Abends glaube ich sogar, dass er Französisch spricht, aber dann sage ich mir, dass ich mich verhört haben muss.
     
    Ich frage mich, ob Thomas etwas gemerkt hat. Heute Abend war er beim Essen nicht wie sonst, er hat fast nichts gegessen und mich nur immer wieder spöttisch gemustert. Aber vielleicht bin ich so gehemmt oder fühle mich so schuldig, dass ich Thomas und Nina nicht unbefangen in die Augen schauen kann. Ich will kein Risiko eingehen, deshalb winde ich mich, weiche aus, springe während des Essens häufig auf, halte mich lange in der Küche auf, kauere vor dem Kühlschrank, gehe mehrmals hin und her, kann nicht stillsitzen. Ich spüre die Blicke der Kinder an meinem Rücken, auch den von Herrn Bergen, und das erdrückt mich, nimmt mir die Luft zum Atmen, und ich fühle mich beobachtet, plötzlich von Thomas und Nina abgelehnt. Aber vielleicht bilde ich mir das alles nur ein; die Kinder wissen nichts, ahnen nichts, sie haben andere Sorgen, Probleme, von den ich wiederum nicht die leiseste Ahnung habe, und die riesengroße Angst, ob ihre Mutter überlebt; sie können nicht ahnen, was sich Abend für Abend in meinem Zimmer abspielt, zu einer Uhrzeit, zu der sie schon tief und fest schlafen; sie sind noch Kinder, die sich in ihre Träume flüchten. Zumindest rede ich mir das ein. Woher kann ich aber wirklich wissen, ob Thomas das Kommen und Gehen seines Vaters nicht doch beobachtet? Thomas, der sich mir gegenüber inzwischen betont gleichgültig gibt, scheint mich nicht mehr zu begehren. Ich weiß nicht, was zwischen Thomas und mir am See ohne Grund geschehen ist. Wir waren so glücklich miteinander, so überrascht über unseren gemeinsamen, heimlichen Ausflug. Wir hatten geglaubt, das Leben sei einfach, weil wir etwas Verbotenes taten, weil es endlich nicht mehr regnete, weil wir uns von einer unerwarteten Kraft getragen fühlten und das Leben um uns herum nicht mehr existierte. Aber das Leben um uns herum hat uns wieder eingeholt, erlegt uns Pflichten auf, dominiert uns. Aus Angst, in Thomas verliebt zu sein, bin ich schroff zu ihm, vielleicht auch, um mich zu bestrafen. Ich müsste eine Pause haben, bräuchte etwas Abstand zwischen den einzelnen Besuchen von Herrn Bergen, man müsste diese verrückte Spirale anhalten. Ich müsste darüber reden, den Mut aufbringen, Herrn Bergen darauf anzusprechen, aber als was soll ich das bezeichnen, was wir jeden Abend erleben, wie soll ich ihm
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