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Das fremde Jahr (German Edition)

Das fremde Jahr (German Edition)

Titel: Das fremde Jahr (German Edition)
Autoren: Brigitte Giraud
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Rückkehr nach Frankreich trennen. Auch an den folgenden Abenden äußert Herr Bergen dieselbe Bitte, die ich wie ein kleiner Roboter erfülle. Ich hebe die Arme, schiebe sie durch die Armlöcher, ziehe mir den Stoff über die Hüften, und dann schließt Herr Bergen die Knöpfe vorne am Oberteil. Ich bin barfüßig, und es kommt mir lächerlich vor, wenn mich Herr Bergen in die Arme nimmt, und jedes Mal habe ich etwas mehr Angst vor dem, was geschieht, und eine dichte Angst bemächtigt sich meiner, dringt mir bis ins Mark, eine Angst, die mir Magen und Kehle zuschnürt, so dass ich kaum noch Luft bekomme. Während Herr Bergen unter dem Stoff meine Haut sucht, sage ich mir jeden Abend, dass es das letzte Mal sein wird, denn das Spiel ist einfach zu kompliziert, ich fürchte, dass Herr Bergen mein Zimmer nicht mehr verlässt und dieses Geschehen die ganze Nacht andauern könnte. Aber ich hindere ihn nicht an seinem Tun, ich bin neugierig, unfähig, nein zu sagen, fasziniert von seinem Interesse für mich. Aber bin es wirklich ich, diese junge Frau, die von Herrn Bergen gestreichelt wird? Ich hasse mich und mir ist kalt.
     
    Simons Brief, der an diesem Morgen ankam, ist nur eine Seite lang. Er redet nicht lange um den heißen Brei herum und sagt mir unverblümt, dass er demnächst von zu Hause ausziehen wird. Er will mit seiner Freundin Edith zusammenziehen und auch sein Studium an den Nagel hängen, was ich seit Wochen schon kommen sah. Die Eltern erwähnt er nur am Rande, aber ich begreife trotzdem, dass sich ihr Verhältnis nicht verändert hat, immer noch zerbrechlich und von Schuldgefühlen geprägt ist. Er erzählt von einer Arbeitsstelle, die er im Sommer anzutreten hofft, Ediths Vater wird ihn in seiner Firma unterbringen, er sieht die Zukunft als kinderleichte Gleichung aus Faktoren wie Liebe, Freiheit und Geld. Er sieht die Zukunft als weit offen stehende Tür, als eine Möglichkeit, zum Mann zu reifen. Nicht genau die Art von Mann, die er erträumt hatte, doch das macht keinen großen Unterschied, für ihn gibt es nur noch Edith, er vergisst, dass er Pläne hatte, Journalist werden wollte, um Artikel zu verfassen, die die Welt beschreiben, seine Sicht der Dinge zu schildern; er sagte, er träume von Objektivität, wolle durch das Schreiben die Welt neu erfinden; das war etwas, das in ihm schlummerte, eine seltene Kraft und ein seltener Elan, der Wunsch, sich an die Menschen zu wenden, ihnen vielleicht auch von sich selbst zu erzählen, ein Verlangen, das, wie ich hoffe, noch nicht ganz erlahmt ist. Er schreibt, dass er weggeht, den Eltern aber noch nichts gesagt hat, zuerst muss er wissen, wann ich zurückkomme. Und da wird mir klar, dass Simon alles von mir erwartet, und mir wird bewusst, welche Macht ich dadurch habe. Ich muss heimkehren, damit er weggehen kann, ich soll den Platz einnehmen, den er bislang innehatte, wieder zum Kind meiner Eltern werden. Das einzige Kind in einer zu großen Wohnung. Wie kann Simon mir diese Verantwortung aufbürden? Wie kann er nur an sich denken? Ist die Liebe daran schuld? Ich würde Simon gern bitten, mich von hier wegzuholen, er könnte kommen und mich retten, mich den Händen von Herrn Bergen entreißen.
     
    Doch meine deutsche Geschichte ist noch nicht ganz zu Ende. Es bleibt ein letzter Abend, eine letzte Prüfung. Ich überlege, ob ich das orangefarbene Kleid anziehen soll, bevor Herr Bergen zu mir kommt. Ich möchte seinem Wunsch zuvorkommen, aber etwas hindert mich daran. Vermutlich will ich ihn nicht um das Vergnügen bringen, mir jede Bewegung vorzuschreiben. Ich traue mich nicht, ihm zuvorzukommen, ich unterscheide zwischen zusammenarbeiten und Befehle ausführen. Es gibt Grenzen, die man nicht überschreiten darf. Herr Bergen nimmt den Faden da auf, wo wir ihn beim letzten Mal fallen ließen. Er beginnt in einer Sprache zu reden, die ich verstehe, auf Deutsch zuerst, einige besänftigende Worte in einem langsamen Rhythmus, dann wechselt er zu Französisch über, kein Zweifel, er sagt einen ganzen Satz auf Französisch, als er nun vor mir steht. Er weicht meinem Blick aus, als er weiterredet und sachte meine Handgelenke festhält, und ich drehe den Kopf weg, ich will nichts mehr hören, ich ziehe mich in mich selbst zurück. Meine Zähne beginnen zu klappern, ich erstarre in dem orangefarbenen Kleid, mir ist plötzlich kalt, und ich denke an das Bett, das mich in Frankreich erwartet, an die Decken in meinem Mädchenzimmer, unter die ich mich verkriechen
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