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Das fremde Jahr (German Edition)

Das fremde Jahr (German Edition)

Titel: Das fremde Jahr (German Edition)
Autoren: Brigitte Giraud
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möchte. Ich denke an meine Puppe Isa, die achtlos in einer Ecke sitzt, an meinen Schreibtisch am Fenster, meine kleine Bibliothek mit den Büchern, die ich im Gymnasium gelesen habe:
Der Zauberberg
auf dem oberen Regalfach,
Der Fremde
von Albert Camus,
Der Verwaiser
von Samuel Beckett, ich sehe im Geiste jedes der im Unterricht durchgenommenen Bücher wieder vor mir, während Herr Bergen auf Französisch mit mir spricht; ich versuche, keines zu vergessen,
Die große Herde
von Jean Giono,
W oder die Erinnerungen an die Kindheit
von Georges Perec, ich sehe die Tapete mit den großen braunen Blumen wieder vor mir, den Spiegel, vor dem ich meine Haare so radikal abgeschnitten habe,
Das Spiel von Liebe und Zufall
von Marivaux,
Die schmutzigen Hände
von Jean-Paul Sartre,
Kindheit
von Nathalie Sarraute, ich sehe das Poster von Mick Jagger und Keith Richards, das ich mit Stecknadeln an die Wand geheftet habe; während Herr Bergen vor mir steht und in meiner Sprache zu mir spricht, mit einem starken Akzent, gehe ich im Geiste alle Einzelheiten des Zimmers durch, das mich erwartet, meine kleine Goldkette in der Schatulle aus Buchsbaumholz, Leos Armbanduhr in meiner Schreibtischschublade, ich zähle auf, was mich mit meinem früheren Leben verbindet, ich versuche, mich nicht von Herrn Bergens Worten durchdringen zu lassen. Dann schlägt er mir vor, mich aufs Bett zu setzen, kann meine Panik etwas mildern, er sagt mir, dass er sich Zeit lassen wird, dass wir die ganze Nacht haben und er nur reden möchte. Die Geschichte von Herrn Bergen hat auch mit dem Französischen zu tun, ich habe es geahnt, aber nicht gewusst, dass er die Sprache seiner Mutter noch kennt. Er sagt mir, dass er von Kindesbeinen an Französisch spricht, dass sein Vater es ihm beigebracht hat, Tag für Tag, in der kleinen Wohnung in Hamburg, die sie nach ihrer Rückkehr aus Frankreich bezogen hatten. Da ich keine Fragen stelle, als ich nun neben Herrn Bergen auf meinem Bett sitze, redet er weiter, während er auf den Schrank starrt, und erzählt mir, dass er erst wenige Tage alt war, als seine Mutter starb, und er sich deshalb nicht an sie erinnert. Er sagt nicht, woran sie gestorben ist, ich will es mir auch gar nicht vorstellen. Seine Mutter war eine der Frauen, die nach der Befreiung kahlgeschoren wurden, weil sie eine Verräterin war, einen deutschen Soldaten geliebt und gewagt hatte, von ihm ein Kind zu bekommen. Eine der Frauen, die einen Deutschen bei sich aufgenommen hatte, natürlich nur heimlich. Er macht eine lange Pause. Dann fährt er fort und erzählt mir, dass danach keine andere Frau bei ihnen wohnte, dass Französisch ihre Umgangssprache war, sein Vater unglaubliche Erwartungen an ihn hatte und das Deutsche nicht mehr ertrug. Er wollte nach dem Ende des Kriegs aber nicht in Frankreich bleiben, sondern hatte an Dänemark gedacht, wo die Menschen weniger misstrauisch waren, doch dann wären sie schon wieder ohne Wurzeln gewesen. Deshalb sind Vater und Sohn in der Nähe von Hamburg geblieben, wo der Vater von Herrn Bergen wie Hans Castorp, der Protagonist im
Zauberberg
, in der Importabteilung einer Schifffahrtsgesellschaft arbeitete, und wenn Herr Bergen nach der Schule vom Sport kam, ging er zu ihm in die Lagerhalle. Er hatte keine Geschwister und war viel allein in der Wohnung. Bei diesen Worten bekam ich einen Schreck: Herr Bergen hatte also vermutlich alles verstanden, was ich im Laufe der beinahe sechs Monate am Telefon gesagt hatte. Und ich hatte mir nichts dabei gedacht, wenn er bei meinen abendlichen Telefongesprächen mit meiner Mutter im selben Zimmer war! Dabei hat er all meine Lügen gehört, meine kleinen Beschönigungen, er konnte die Schimpfwörter verstehen, mit denen ich seine Kinder manchmal bedachte, er muss sich gefragt haben, was für traurige und dümmliche Songtexte ich am Bügeltisch für Leo verfasst habe! Herrn Bergens Anwesenheit und das, was er mir soeben anvertraut hat, stürzt mich in ein inneres Chaos, ich stehe kurz davor, ihn zu bemitleiden, ich bin gerührt, spüre, dass ich schwach werde und einen Moment lang versucht bin, mich ihm gegenüber ebenfalls zu öffnen. Ich würde ihm gern von Leo erzählen, ihm im Gegenzug auch ein Geheimnis erzählen; jeder hat einen Tod zu beklagen, endlich stehen wir auf gleichem Fuße, aber etwas hindert mich daran, meine Trauer mit Herrn Bergen zu teilen, etwas sagt mir, dass wir unsere Toten und Verluste nicht in einen Topf werfen können. Ich schäme mich in Wirklichkeit
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