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Das fremde Jahr (German Edition)

Das fremde Jahr (German Edition)

Titel: Das fremde Jahr (German Edition)
Autoren: Brigitte Giraud
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Gesicht, nachdem er es mir gezeigt hatte. Es dauert nicht lange, bis sein Geruch das kleine Zimmer füllt, und ich würde am liebsten das Klappfenster öffnen, um mich ihm nicht so nahe zu fühlen, damit etwas frische Luft zwischen ihm und mir durchweht, aber ich wage es nicht, als sei mein Zimmer plötzlich konfisziert worden, ich weiche nur an den Schrank zurück, und mehr als dieser eine Schritt ist mir nicht möglich, aber danach sind wir immer noch keine zwei Meter voneinander entfernt. Ich bleibe stehen, er bleibt sitzen, oder besser gesagt, kauert kraftlos auf meinem Bett, und ich weiß nicht, was ich mit der mitgenommen aussehenden menschlichen Masse anfangen soll, mit der ich an diesem Abend konfrontiert bin, die in meinen Raum eindringt, meine Luft und meine Privatsphäre für sich beansprucht. Ich weiß nicht, wie ich hier atmen soll, wo er atmet, wo er weint und schnieft, und deshalb halte ich die Luft an, mache mich so klein wie möglich, verwandle mich in eine Schnecke, die sich in ihr Schneckenhaus zurückgezogen hat. Dorthin, wo die Sprache mir weiterhelfen könnte und ich ihm ebenbürtig wäre, dorthin, wo Wörter und ihre Aneinanderreihung Wunder bewirken könnten, dorthin, wo Worte um das Eigentliche herumführen, Distanz schaffen und ablenken könnten. So aber fühle ich mich hilflos, ja, geradezu meinem Körper entflohen, ich komme mir restlos blöd vor, wie ein Mädchen, das nur mittels seines Körpers existiert, nicht mittels seiner Stimme, seiner Sätze, Intonationen; ich bin wie behindert, ich kann mir mittels des Spielerischen der Sprache einen Weg bahnen zu einer Tür, die ins Freie führt, ich kann Herrn Bergen nicht aus seinem Stimmungstief holen, seinen Zustand nicht entschärfen, ich kann nichts ins Feld führen außer meinem Blick und meinen Fäusten, habe nur meine Finger oder Haare zu bieten. Er hebt den Kopf und blickt mich an, streckt einen Arm aus, nimmt meine Hand und hält sie fest, sagt, wie sehr er unter der Einsamkeit leidet. Mit seiner Geste hat er mich gezwungen, einen Schritt nach vorn zu machen, und ich habe mich gegen meinen Willen bewegt und mich in seine Richtung ziehen lassen. Statt Hals über Kopf aus dem Zimmer zu rennen, durch die halboffene Tür ins Freie, um von vornherein zu verhindern, dass eine Situation wie diese außer Kontrolle gerät, bleibe ich da, absolut passiv, verharre in einer Position, die gar nicht zu mir passt, und werde zu jemandem, der tröstet, ohne Worte, aber dabei ist, mit innerem Widerstand und doch einwilligend – wie kann ich das erklären? Herr Bergen lässt meine Hand nicht mehr los, streichelt sie zärtlich und keineswegs aufdringlich, doch der Druck seiner Hände an meiner, die Art, wie er sie festhält, lassen mich erahnen, wie verzweifelt er sein muss – in einem Ausmaß, das mich erschreckt. Ich werde zu einer Puppe, einem leblosen Objekt ohne Fleisch und Blut, und teile mich plötzlich in zwei ungleiche Hälften: auf der einen Seite bin ich, auf der anderen meine Hand, vollkommen dissoziiert. Und da ich nicht weiß, wie ich diesem verstörenden Intermezzo ein Ende setzen könnte, finde ich endlich meine Sprache wieder und stammle einen angemessenen Satz, der Frau Bergen ihre Stellung wiedergibt. Ich frage, wie es ihr geht, ob ihre Genesung voranschreitet, der operative Eingriff ist über zwei Wochen her, aber ich weiß nicht, ob ich ihn »Operation« nennen kann, ich will keinen gefährlicher klingenden Ausdruck verwenden als nötig, doch der Fachausdruck fällt mir im Deutschen nicht ein. Im Falle von Frau Bergen war es sicher nur eine operative Entfernung des Tumors. Infolge dieser Bedenken bleibe ich lange so stehen, meine Hand in der von Herrn Bergen gefangen, ehe ich wage, den Mund zu öffnen, denn mir fehlt ein einfaches Wort, mit dem ich mich befreien könnte. Meine Frage hat die Situation jedoch etwas entspannt, Herrn Bergens Tränen versiegen, er entschuldigt sich für seine Schwäche, und ich begleite ihn bis zum Fuß der Treppe, er geht nicht mehr ganz gerade und braucht ewig, bis er endlich im oberen Stockwerk ist. Ich kehre in mein Zimmer zurück, schließe die Tür ab und lasse mich auf mein Bett fallen. Und ich zittere für einen guten Teil der Nacht.
     
    Die Tage, die auf diesen besonderen Abend folgen, reihen sich aneinander und ähneln sich. Herr Bergen ist von morgens bis abends außer Haus, völlig beansprucht von seiner Arbeit im Büro. Gegen neun Uhr steigt er in seinen VW -Bus. Thomas, der wohl ebenfalls
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