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Das fremde Jahr (German Edition)

Das fremde Jahr (German Edition)

Titel: Das fremde Jahr (German Edition)
Autoren: Brigitte Giraud
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den ich vor einigen Jahren zusammen mit Simon und Leo im Fernsehen gesehen habe, zusammen mit unseren Eltern, an den Moment, als das Monster zum Leben erwacht und mit mechanischen Bewegungen beginnt. Herr Bergen nimmt mich in die Arme, zwischen dem Klappfenster und dem Schrank, er drückt mich an sich, aber nicht zu fest, und lehnt sich sachte an mich. Ich reagiere nicht, sondern warte nur, bis es vorbei ist, und begreife auf einen Schlag, dass das, was sich hier abspielt und nicht abspielen dürfte, böse enden kann. Dabei habe ich ihm weder den Zutritt in mein Zimmer verboten noch nein gesagt oder die Flucht ergriffen. Doch Herrn Bergens Umarmung fesselt mich und macht mich bewegungslos, weil sie mich an eine frühere Umarmung erinnert, die einzige, die ich je von einem Jungen erhalten habe, und dieser Junge war Simon, am Tag, an dem Leo seinen Unfall gehabt hatte. Ich spüre noch immer, wie Simon mich an sich drückte, mein großer Bruder und ich standen aneinandergeschmiegt wie zwei Kätzchen, dann nichts mehr, wir waren unfähig, uns zu umarmen oder auch nur zu berühren; als schmerze es zu stark, blieben wir getrennt.
     
    Am darauffolgenden Abend steht Herr Bergen wieder da, vor meiner Tür und gleich darauf in meinem Zimmer. Er sagt nichts, versucht nicht, mir etwas zu erzählen, um mich für sich einzunehmen. Nein, er steht einfach nur zwischen meinen vier Wänden, und sein Atem füllt bald den ganzen Raum aus. Ich schwanke zwischen Angst und Faszination. Ich lasse ihn auf mich zukommen, wehre mich nicht, als er die Hände an meinen Hals legt, ich könnte verhindern, was dann geschieht, doch etwas in mir ist unerklärlicherweise einverstanden. Ich lasse es zu, dass Herr Bergen meine Schultern berührt, meine Schulterblätter, um dann an meinen Nacken zurückzukehren; ich schließe die Augen, um seinen Blick nicht zu sehen, um nicht auf das zu stoßen, was so merkwürdig in seinen Pupillen funkelt. Herrn Bergens Mund ist leicht geöffnet, befindet sich direkt oberhalb meines Kopfes, und sein Atem widert mich an, sein dicker Bauch berührt bald schon meine Brust, er könnte mich mühelos an die Wand drücken. Doch er bleibt stehen, ohne mich noch fester zu halten, streichelt nur über meine Haut, unten am Hals, dann wandern seine Hände über mein Gesicht, meine Wangen, Nasenflügel und Augenlider, meinen Mund, und diese lautlose Erforschung lässt mein Herz schneller schlagen; er kommt mir wie ein Blinder vor, der ein Gesicht in all seinen Einzelheiten mit den Händen erforscht, um es ganz genau zu erspüren. Ich lasse es zu, dass seine Hände durch meine Haare wandern, als wollten sie Strähne um Strähne zählen. Ich spüre seine Finger, die hartnäckig weitertasten, die suchen, wer weiß was versuchen, ich spüre, wie er seine Handflächen um meinen Kopf legt, wie seine Finger wieder zu meinen Augen gleiten, an meinem Mund verweilen, vielleicht in der Erwartung, dass ich meine Lippen leicht bewege und vielleicht sogar in der Hoffnung auf einen Kuss. Aber ich stehe wie leblos da, wie versteinert, fühle mich zwischen den Händen von Herrn Bergen nur als Objekt, als Puppe, die man bewegen, aber auch kaputtmachen kann. Ich denke an meine Puppe Isa, die letzte, die ich vor vielen Jahren zu Weihnachten geschenkt bekam, als alles noch in Ordnung war auf dem Angesicht der Erde, als das Leben uns nur kleinere Streiche spielte, wie an jenem 25 . Dezember, den ich nie mehr vergessen kann, weil die Sprechpuppe, die ich mir gewünscht hatte, unbegreiflicherweise stumm blieb. Während Simon und Leo mit lautem Freudengeschrei ein Feuerwehrauto und eine Indianerausrüstung auspackten, drückte ich vergeblich auf den Knopf, der meine Puppe hätte zum Sprechen bringen sollen, doch aus dem versteckten Kästchen in ihrem Bauch kam kein einziger Laut. Ich drehte die Puppe hin und her, schüttelte sie und versuchte herauszufinden, was man genau tun musste, um sie zum Sprechen zu bringen. Doch ich musste mich geschlagen geben, denn trotz des Eingreifens meines Vaters und des Geschreis meiner Mutter musste ich irgendwann einsehen, dass die Puppe niemals auch nur den leisesten Ton von sich geben würde. Als ich nun in dem kleinen Zimmer stehe, zwischen den warmen Händen von Herrn Bergen, habe ich das Gefühl, die arme Puppe von damals zu sein, die nicht sprechen kann, ihrer wesentlichsten Eigenschaft beraubt und ein Wesen ohne Gehirn ist, das weder denken kann noch einen eigenen Willen hat.
     
    Herr Bergen kommt jeden Abend
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