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Das fremde Jahr (German Edition)

Das fremde Jahr (German Edition)

Titel: Das fremde Jahr (German Edition)
Autoren: Brigitte Giraud
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begreiflich machen, welche Gefahr es für die Kinder darstellt. Ich bin wütend auf Herrn Bergen, er ist der Erwachsene, er ist der Vater und trägt folglich die Verantwortung. Ich weiß nicht, welcher Platz mir in dieser Geschichte zukommt. Ich bin diejenige, die benutzt wird, aber nicht unschuldig ist, diejenige, die gern vorsichtiger wäre, das Ganze jedoch billigt. In meinem Innersten weiß ich, dass ich kein Opfer bin, ich mag das Mädchen nicht, das das alles zulässt, ich erkenne es nicht wieder, es stört mich. Aber dennoch existiert dieses Mädchen in mir; ist es vielleicht nur eine Doppelgängerin, die nur zwischen elf Uhr abends und Mitternacht in mir erwacht? Eine Wucherung, die sich aus mir herauswölbt, eine Vermehrung bösartiger Zellen? Ich mache mir Sorgen, ich habe mich auf eine gefährliche Bahn begeben, ich lasse etwas zu, dem ich nicht gewachsen bin, ich weiß, dass es eine schiefe Bahn ist, ich weiß, dass ich mich verliere, aber ich kann nichts aufhalten.
     
    Wenige Monate vor meinem achtzehnten Geburtstag ziehe ich Bilanz: ein fremdes Land, eine fremde Sprache, ein fremder Mann, meine mir fremden Eltern, mein Bruder Leo, dessen Bild in immer weitere Ferne rückt, mein Bruder Simon, der mir entgleitet, und ich selbst – ein Körper, der mir fremd ist. Das sage ich mir am Morgen beim Aufwachen, als es mir nicht gelingt, einen Fuß auf den Boden zu setzen, obwohl das Licht schon längst durch mein Klappfenster hereinfällt. Das sage ich mir auch immer und immer wieder, als ich mit Nina an den Schienen entlanggehe. Ist es vielleicht die Erfahrung der Trauer? Alles ist mir so fremd, dass mir schwindelig wird.
     
    Herrn Bergens Besuche werden nicht seltener. Ich glaube nicht, dass ich sie noch lange ertrage. Er ist es, der alles entscheidet und genau bestimmt, was sich in meinem Zimmer abspielt. Er streichelt mich, kaum dass er da ist, den Nacken, die Arme, das Gesicht, er küsst meinen Hals, ich schließe die Augen, um nicht von seinem konfusen Blick verwirrt zu werden. Dann fängt er an zu reden, das ist noch recht neu und fing an dem Tag des großen Sturms an, als der Wind durch das schlecht isolierte Klappfenster pfiff. Er sagt einen ersten Satz, wie immer mit seinem rollenden R, so dass ich schon wieder nichts verstehe, was mich kein bisschen stört, mir ist nicht danach, ihn zu verstehen, ich habe keine Lust, seinen Atem, sein Zaudern zu spüren, seine tränenerstickte Stimme und sein Atemholen zwischen zwei Wörtern zu hören. Er fährt mit seinem monotonen Singsang fort, und irgendwann frage ich mich, ob seine Sätze eventuell eine Frage sind, ob er etwas erwartet. Doch ich kann keinen fragenden Unterton erkennen, nein, was er sagt, entgeht mir völlig, vielleicht spricht er in dem komischen Dialekt, mit dem er mit seinem Vater redet? Er fährt mit seinem merkwürdigen Monolog fort, während ich ausgestreckt daliege, auf dem Bauch diesmal, weil er mich darum gebeten hatte, und ich muss aufpassen, dass ich nicht einschlafe, ich bin an diesem Abend ungewöhnlich müde, ich weiß nicht, ob ich will, dass die heimlichen Treffen mit dieser seltsamen Gestalt weitergehen. Herr Bergen verlässt mein Zimmer so überstürzt wie immer, und ich höre seine schweren Schritte die Treppe hinaufgehen. Ich weiß nicht, ob er noch auf ein letztes Gläschen ins Wohnzimmer geht. Ich verkrieche mich unter meine Decke und bin so erschöpft, als hätte ich einen Marathon hinter mir, jeden Abend habe ich dieses Gefühl, wenn Herr Bergen gegangen ist, ich fühle mich leer und hässlich, aber auch unentbehrlich.
     
    Dann kommt ein Abend, an dem alles kippt, an dem ich verstehe, was Herr Bergen sagt, auf einen Schlag ist alles klar, ich verstehe jede seiner Formulierungen, begreife aber nur, dass er von dem orangefarbenen Kleid spricht, das Frau Bergen mir geschenkt hat, das Kleid, das ich am Abend ihres Geburtstags trug. Ich begreife nur, dass Herr Bergen mich bittet, das orangefarbene Kleid über meinen fröstelnden Körper anzuziehen. Er muss seine Bitte nicht wiederholen, und doch tut er es mehrmals, wie ein quengeliges Kind, das es nicht erwarten kann, bis seine Mutter auf es eingeht, und deshalb stehe ich auf, gehe an den Schrank und nehme das Kleid vom Kleiderbügel. Ich lasse den weichen Stoff über meinen Kopf gleiten. Herr Bergen besteht darauf, die Knöpfe über meiner Brust zu schließen, langsam und mit zitterigen Fingern. Während er das tut, zähle ich im Kopf die Tage, die mich noch von meiner
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