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Das fremde Jahr (German Edition)

Das fremde Jahr (German Edition)

Titel: Das fremde Jahr (German Edition)
Autoren: Brigitte Giraud
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Müdigkeit die Augen kaum noch aufhalten. Ich bin Laura, ein junges Au-pair-Mädchen, in seiner provisorischen Heimat für die nächsten sechs Monate. Vermutlich war es ein Fehler, hierherzukommen. Ich weiß es noch nicht, aber ich kann nichts von dem verhindern, was geschehen wird.
     
    Es sind die Kinder, die mich in mein Zimmer führen, einen kleinen Raum im Keller, unter der Treppe gelegen. Ich würde gern fragen, wo dieser starke Benzingestank herkommt, aber ich kenne nicht alle nötigen Wörter, um einen korrekten Satz zu bilden. Also behalte ich die Frage für mich und begnüge mich damit zu lächeln und mich mit dem zufriedenzugeben, was man mir gibt. Ich stelle meine Reisetasche auf das schmale Bett. Thomas öffnet den Schrank und zeigt mir die leeren Regalfächer und den Spiegel an der Innentür. Frau Bergen kommt etwas später nach und entschuldigt sich für den Benzingestank. Thomas stelle sein Mofa immer direkt über dem kleinen Klappfenster ab. Tatsächlich kann ich durch die Muster des Vorhangs ein Zweirad erahnen. Ich sage: »Ja, natürlich«, weil mir nicht einfällt, was ich sonst sagen könnte, zum Beispiel der Vorschlag, dass Thomas sein Mofa auch woanders parken könnte. Frau Bergen will mir gleich noch das Untergeschoss zeigen. Hier die Waschküche mit einer Waschmaschine und Wäsche an einer Leine, dort der Heizungskessel und gegenüber meinem Zimmer ein komplett mit Holz getäfelter Raum, »Diskothek« genannt, mit einer Bar, Barhockern, einer Sitzbank und einer kleinen Tanzfläche.
     
    Ich weiß nicht, was ich tun soll, nachdem ich meine Kleidung im Schrank verstaut und meinen kleinen Kassettenrekorder auf den Nachttisch gestellt habe. Das Einfachste wäre, unter die Decke zu kriechen und mich der Traurigkeit hinzugeben, die ich verspüre. Aber ich habe Angst, mich gehenzulassen. Nur kein Müßiggang! Ich mache die Schranktür auf, setze mich auf das Bett und betrachte mein Spiegelbild. Wie konnte ich mir vor der Abreise nur diesen grässlichen Haarschnitt verpassen? In meinem Zimmer in Frankreich habe ich Strähne um Strähne abgeschnippelt, bis meine Haare so rappelkurz waren, dass man die Kopfhaut durchschimmern sah. Aus Angst vor meiner Mutter habe ich mich nicht mehr aus meinem Zimmer getraut. Mit einem Anflug von Mitleid in den Augen hat sie mich gefragt, warum ich mich derart verschandelt habe. Hier nun, vor dem Spiegel in meinem deutschen Zimmer, wird mir klar, dass meine Mutter nicht unrecht hatte. Morgen werde ich mir Gel kaufen, um meinen neuen Kopf einigermaßen in Form zu bringen. Ich weiß nicht, ob ich nach oben ins Wohnzimmer gehen soll, wo die Kinder sicher wieder vor dem Fernseher sitzen, oder ob ich Frau Bergen in der Küche helfen muss. Als ich die Treppe hinaufgehe, betritt Herr Bergen gerade das Haus. Es ist kurz vor sechs, und wir setzen uns bald darauf an den Tisch.
     
    Alle reden. Viel. Schnell. Laut. Ich klammere mich verzweifelt an einige Wörter, die wichtig sein könnten. Dann verliere ich den Faden, schweife ab, um im letzten Augenblick wieder in die Unterhaltung einzutauchen. Manche Fragen müssen sie mir zweimal stellen, und ich ziehe die Augenbrauen hoch und schaue Herrn Bergen fragend an, als er wissen will, ob es mir etwas ausmachen wird, so früh aufzustehen. Die Kinder müssen um halb acht in der Schule sein, und ich soll Nina zum Bus begleiten. Frau Bergen hat die größte Scheibe Leber auf meinen Teller gelegt, noch bevor ich protestieren konnte, aber ich weiß, dass ich dieses Riesenstück niemals hinunterbringe. So stehe ich gleich bei der ersten Mahlzeit vor zwei unlösbaren Problemen: mit diesem großen Stück Fleisch fertigzuwerden, von dessen Geruch mir schon übel wird, und mir gleichzeitig die Unmenge von Informationen für den nächsten Tag zu merken. Noch etwas macht mir Sorgen: Bestimmt fragen sich alle, wer dieses dümmlich dreinschauende, fast stumme Mädchen ist, das immer nur lächelt und fragend von einem zum anderen schaut; dieses ganz offensichtlich von der Situation überforderte, verlegene Mädchen; das vermutlich ganz nett ist, da es die ganze Zeit den Hund streichelt, während es auf seinem Teller herumstochert; es muss ein armes kleines Ding sein, denn die merkwürdige Frisur verrät, dass es irgendwie gestört ist. Ich springe auf, um Frau Bergen meine Hilfe anzubieten und mit ihr in die Küche zu gehen, doch sie gibt mir zu verstehen, dass ich mich wieder setzen soll. So bin ich weiterhin den Fragen der Kinder und den
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