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Das fremde Jahr (German Edition)

Das fremde Jahr (German Edition)

Titel: Das fremde Jahr (German Edition)
Autoren: Brigitte Giraud
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ich bleibe in der Küche stehen und weiß nicht, was ich tun soll. Es stört mich, dass die Eltern noch nicht aufgestanden sind. Wird es jeden Tag so sein? Ich räume die Tassen und das Besteck in die Spülmaschine, wische den Tisch und die Arbeitsplatte ab. Dann räume ich die Müslikartons und die Erdnussbutter weg, spüle die Töpfe und die Pfanne vom Vorabend, die noch im Spülbecken stehen. Ich leere die überquellenden Aschenbecher und suche anschließend lange nach der Fernbedienung, um den Ton des Fernsehers leiser zu stellen. Auf dem Bildschirm sehe ich eine junge Frau auf einem Heimtrainer, die mit einem strahlenden Lächeln auf den Lippen in die Pedale tritt – so, als sei sie unerwartet im Paradies gelandet. Ich warte, bis es hell wird, um den Ernst meiner Lage einzuschätzen. Es ist genau, wie ich befürchtet habe: auf der einen Seite nur verschneite Felder, auf der anderen ein Wald, sowie eine schmale, leere Straße zwischen Birken und Tannen. Ich schaue durch das große Glasfenster in die Ferne, um mich zu vergewissern, dass ich nichts Wesentliches übersehen habe. Nein, das war schon alles, das nächste Haus ist mindestens fünfhundert Meter weit weg. Aus Angst, den Eltern über den Weg zu laufen, traue ich mich nicht ins obere Bad. Ich muss mich mit der kleinen Toilette begnügen, in der es auch eine Dusche gibt. Dort schließe ich mich ein und spitze die Ohren. Ich genehmige mir eine heiße Dusche und frage mich, wie mein erster Tag wohl verlaufen wird.
     
    Ich sitze vor dem Fernseher, als Herr Bergen die Treppe herunterkommt, kurz nach neun, und es ist mir peinlich, dass er mich auf dem Sofa sitzend antrifft. Ich springe auf und versuche, mich ganz natürlich zu geben. Ich weiß nicht, ob ich auf ihn zugehen soll oder ob er auf mich zugeht, umso mehr, als wir beide kein Wort sagen. Muss ich ihm sein Frühstück zubereiten? Ehrlich gesagt, habe ich keine Ahnung von meinen Aufgaben. Muss ich mich nur um die Kinder kümmern? Den Haushalt führen? Soll ich mich als Hausangestellte sehen oder spiele ich eine genauer definierte Rolle? Auf dem Formular der Vermittlungsagentur für Au-pair-Mädchen stand genau, wie viele Stunden pro Woche ich im Dienst der Kinder und des Hauses tätig sein muss, aber von der Aufteilung dieser Stundenzahl stand nichts da. Im Gegenzug würde ich eine gewisse Geldsumme erhalten und hätte auch Zeit, um meine Sprachkenntnisse zu verbessern. Das Formular mit dieser Vereinbarung steckt in meiner Tasche, unterzeichnet und abgestempelt. Ich warte darauf, dass mir die Bergens die Spielregeln erklären. Doch nur der Herr des Hauses ist auf den Beinen, er steht im Morgenmantel in der Küche, zündet sich seine erste Zigarette an und tut so, als wäre ich nicht da. Ich bleibe reglos vor dem Fernseher sitzen und fühle mich total überflüssig. Wäre das Haus nicht so abgelegen, hätte ich frisches Brot eingekauft, um zu beweisen, dass ich durchaus zu etwas fähig bin. Doch ich bin zur Passivität gezwungen, fühle mich wie amputiert. Ich kann weder ich selbst sein noch sagen, wer ich bin.
     
    Ich wage nicht, in Herrn Bergens Richtung zu blicken. Ich bleibe lieber auf der Kante des Sofas sitzen, die Fernbedienung in der Hand, und tue so, als interessiere ich mich für das, was im Fernsehen kommt, und versuche, Licht in den Wirrwarr aus Subjekt-Verb-Objekt-Nebensatz zu bringen. Zum Glück nimmt sich der Hund meiner an, und ich kann etwas tun und somit vorgeben, mich hier einzuleben. Einen Hund zu streicheln hat oft diese Funktion: Man freundet sich mit dem Tier an, um sich bei seinem Herrchen einzuschmeicheln und um eine Leere auszufüllen. In diesem Moment ist es jedoch meine einzige Sprache: den Kopf des Cockerspaniels zwischen meine Knie zu nehmen und darauf zu warten, dass etwas passiert.
     
    Herr Bergen kommt ins Wohnzimmer, mit seinem Kaffee und seiner Zigarette, sagt einen Satz, von dem ich kein Wort verstehe außer »schlafen«, doch ich weiß nicht, ob er mich fragt, ob ich gut geschlafen habe oder ob er mir mitteilen will, dass Frau Bergen noch schläft. Oder aber er sagt, er selbst hätte schlecht geschlafen. Wie soll ich das unterscheiden? Ich beschränke mich darauf, lächelnd etwas zu murmeln. Er fragt mich, ob ich auch einen Kaffee möchte, und ich bin ihm dankbar, dass er mich etwas tun lässt, und sei es auch nur, den Zucker zu holen sowie einen Kaffeelöffel – das ist schon mal der Ansatz zu einer Handlung. Eine unbedeutende Tätigkeit, die weitere Tätigkeiten
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