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Das fremde Jahr (German Edition)

Das fremde Jahr (German Edition)

Titel: Das fremde Jahr (German Edition)
Autoren: Brigitte Giraud
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mysteriösen Ratschlägen des Ehemanns ausgesetzt, der zu allem Überfluss auch noch das R rollt. Ich hoffe, dass sie irgendwann nicht mehr auf meine Leber starren, aber nein: Diese bleibt im Mittelpunkt der allgemeinen Aufmerksamkeit, und alle lachen über meinen mangelnden Appetit. Herr Bergen vergisst darüber sogar, das Fett von seinem Schnurrbart zu wischen. Alle scheinen sich bestens zu amüsieren, werden noch lauter. Die Eltern öffnen ihre zweite Bierflasche und greifen zu ihren Zigaretten. Die Kinder spielen mit dem Hund, der kläfft, doch das scheint niemanden zu stören. Jeder setzt sich in Szene, schreit mehr, als dass er spricht, und ich habe Angst, dass ich nicht mitbekommen habe, was mich am nächsten Tag erwartet. Alle haben etwas zu erzählen, aber niemand hört den anderen zu. Niemand fragt mich, wer ich bin, woher ich komme und warum ich nicht zu Hause geblieben, sondern zu ihnen gekommen bin.
     
    Es ist Nina, die am nächsten Morgen um sechs an meine Tür klopft, und ich habe das Gefühl, dass sie eine Nacht unterbricht, die meinetwegen ewig hätte dauern können. Der Heizkessel unweit meines Zimmers brummt laut. Nichts rührt sich im Haus. Nina bereitet sich ihr Frühstück allein zu, und sie sagt mir sogar, was ich tun muss. Im grellen Licht der Küchenlampe sitzen wir uns gegenüber, und ich spüre, dass sie mich beobachtet, als käme ich von einem anderen Planeten. Ich kann die Kaffeemaschine nicht bedienen und öffne alle Schränke, bis ich gefunden habe, wonach ich suche. Die Sätze, die sie sagt, klingen ausnahmslos wie Rätsel, die ich entschlüsseln muss. Ich fühle, dass ich Nina enttäusche, und habe Angst, ihre Erwartungen nicht zu erfüllen. Ich spüre, dass sie mich beurteilt, ich weiß nicht, ob sie mich unterhaltsam oder hoffnungslos findet. Sicher ist nur, dass sie mir ihr Know-how und ihre Selbständigkeit demonstriert. Es fehlt nicht viel, und sie wird sich über mich lustig machen, aber vorläufig testet sie mich noch. Ich muss das Kommando wieder übernehmen. Folglich sage ich, sie solle sich waschen gehen und ihre Schultasche herrichten. Doch sie korrigiert meinen Satz. Noch habe ich Probleme mit den direkten und indirekten Ergänzungen bei Verben, was im Deutschen rasch zu einem Drama werden kann. Und ich weiß noch nicht, ob die Eltern »schon weg« sind oder »noch schlafen«. Nina bittet mich, ihre langen Haare zu kämmen, was ihr die Gelegenheit gibt, vor dem Badezimmerspiegel vor Schmerzen zu quieken und mir finstere Blicke zuzuwerfen. Als wir aus dem Haus gehen, sehe ich die beiden Autos der Eltern vor der Garage stehen. Im Haus ist noch alles ruhig.
     
    Wir gehen im Dunkeln zur Haltestelle des Schulbusses, wo wir als Einzige warten. Der Wind verbiegt die Bäume am Waldrand, und der Schnee fällt in dicken Brocken von den Zweigen. Nina steigt in den Bus, ohne sich von mir zu verabschieden. Ich weiß nicht, ob ich das lange ertragen werde, schon im Morgengrauen durch den eisigen Wind zu stapfen, während die Eltern des Mädchens, um das ich mich kümmern muss, tief und fest schlafen. Es gibt da etwas, das ich nicht verstehe, etwas, das man mir vermutlich erklärt hat, ich aber nicht mitbekommen habe. Auf dem Nachhauseweg gehe ich an den Schienen entlang, die Kapuze tief ins Gesicht gezogen, und frage mich, weshalb ich überhaupt zu den Bergens zurückgehe, über die Schwelle ihres Hauses trete, obwohl mich nichts dazu zwingt. Unterwegs halte ich nach den ersten Anzeichen des anbrechenden Tages Ausschau, aber die Nacht scheint ewig zu sein, und außer dem Knirschen meiner Sohlen im Schnee ist alles ruhig.
     
    Als ich das Haus wieder betrete, brennt Licht im oberen Stockwerk, und im Wohnzimmer läuft bereits der Fernseher. Thomas kommt die Treppe herunter, stellt seine Schultasche auf den Tisch und trinkt im Stehen ein Glas Milch. Wir wissen nicht, was wir reden sollen, ich teile ihm jedoch mit, dass es draußen kalt ist, als wäre es eine Enthüllung. »Es ist kalt« – hoffentlich würde ich diese schlichte Wortfolge nicht jeden Morgen sagen müssen, nur um das belastende Schweigen zu durchbrechen. Ich würde Thomas gern fragen, wie viele Kilometer er fahren muss und ob es nicht anstrengend ist, die Strecke auch im Winter mit dem Mofa zu fahren, aber er scheint es eilig zu haben, und ich wage nicht, damit anzufangen. Ich würde ihm aber gern zu verstehen geben, dass ich nicht gleichgültig bin, dass er ebenfalls auf mich zählen kann. Thomas geht aus dem Haus, und
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