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Das flüsternde Haus: Eine Hommage an Edgar Allan Poe

Das flüsternde Haus: Eine Hommage an Edgar Allan Poe

Titel: Das flüsternde Haus: Eine Hommage an Edgar Allan Poe
Autoren: Christian Sidjani
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einzufangen und nur so schien es mir möglich. Also nah sein, ganz nah. Nicht nur sehen, wie der Mensch vor mir stirbt, sondern es erleben, für einen Moment vielleicht selber das Opfer sein. Ich wollte ihn (oder sie) erstechen. In Blut werden wir geboren, in Blut sollen wir wieder gehen. Dadurch ergaben sich die Fragen, ohne dass ich überlegen musste:
    Mit welchem Gegenstand sollte dies geschehen? In welche Regionen des Körpers sollte ich stechen, wenn ich wollte, dass mein Opfer nicht zu früh verstarb? Mit welchen Materialien hatte ich den Boden auszulegen, um das Blut aufzufangen? Was sollte ich dafür an Kleidung tragen? Wo sollte es stattfinden?
    Ich fand auf diese und viele andere die passenden Antworten. Ich fertigte Skizzen an und hielt alles in einem Notizheft fest, das ich später vernichten wollte. Ein Mensch, der so präzise und gewissenhaft zu planen vermag, kann nicht verrückt sein, oder? Und verrückt, die Bezeichnung allein ist nur ein Wort der Hüter der Norm. Ohne echtem Gehalt.
    Ich erwähnte, wie normal ich mich unter euresgleichen zu bewegen vermag. So war ich einer von vielen, die im Baumarkt einkauften. Ich wählte dafür einen Sonnabend und nahm mir Zeit, durch die Flure zu schlendern, auch in Regale zu schauen, deren angebotene Waren mich nicht interessierten. Ganz nebenbei fanden meine Utensilien ihren Weg in den Einkaufswagen. Plastikplane und Klebeband, eine Säge, Schutzbrille sowie Handschuhe. Ich wusste nicht, ob die Säge auch Knochen durchtrennte, so kaufte ich eine, die für Eisen geeignet war. Als einer von vielen Kunden verließ ich den Markt wieder. Nie werdet ihr wissen, wie viele von uns dort unterwegs sind.
    Der Einkauf war leicht. Ebenso der Erwerb eines Fleischermessers in irgendeinem wahllos gewählten Kaufhaus. Schwieriger war, den Ort des Geschehens zu bestimmen. Wo fand ich ausreichend Zeit und Muße, alles vorzubereiten? An einem Ort, der nur selten besucht wurde. Die Wohnung meines Opfers schien praktisch, aber war mit zu vielen unabwägbaren Faktoren verbunden: Nachbarn; Bekannte, die einen Zweitschlüssel besaßen; gar Ehepartner oder Kinder. Auch wenn es mir missfiel, die einzige Möglichkeit bildete ein Wochenendhaus, das meine Frau von ihren Eltern geerbt hatte. Dort konnte ich ungestört zu Werke gehen. Doch es gehörte zu mir. Am liebsten war mir ein fremder Ort, den ich nach meiner Tat nie wieder aufsuchte. Pläne schmieden hieß auch, sich dem anzupassen, was vorhanden war.
    Ich brauchte einen Wagen, um zum Haus zu gelangen. Es sollte der meines Opfers sein. Mein eigener war mir dafür zu unsicher. Und ich brauchte ein Sedativum, mit dem ich es über Stunden in Schlaf versetzen konnte. Dies war umso schwieriger zu besorgen, da ich von Medikamenten wenig wusste. Im Krankenhaus aber, dort, wo meine Frau noch liegt, hörte ich mich um, ohne dass die Menschen bemerkten, wie ich ihre Gespräche belauschte. Es war mir möglich, mich mit einer Frau bekannt zu machen, deren Freund durch seine Verbrennungen starke, intravenöse Schmerzmittel benötigte und bei Anfällen auch Beruhigungsmittel. Morphium, glaube ich, zumindest ein Opiat. In einem unbeobachteten Moment entwendete ich eine Ampulle. In einer Apotheke dann erwarb ich Spritzen.
    Das Einzige, was mir fehlte, war mein Opfer. Und es musste abgesehen vom Wagen noch zwei weitere Kriterien erfüllen. Es durfte nicht schwer sein. Ich müsste es öfters tragen können. Noch Entscheidender aber war, mein Opfer musste eine mir unbekannte Person sein. Mehr noch, ich durfte mich bei der Wahl von keinerlei Präferenzen leiten lassen. Ein absolut wahlloses Auswählen. Wo war dies besser auszuführen als in einer geschäftigen Straße in der Stadt? Dort fiel es nicht auf, wenn ich einer Person aus der Masse folgte.
    Oh, wie ich mein unangepasstes Verhalten genieße, wenn es unter euch so angepasst erscheint. Die Menschen sind zu sehr mit und in ihrem Alltag beschäftigt, dass ihnen die Dämonen der Gesellschaft gar nicht auffallen, wenn sie unter ihnen wandeln. Dabei sehen sie sie jeden Tag, Schläger, Pädophile, Mörder aber auch Selbstmörder, Todkranke, kurz innerlich Entstellte. Eine Masse von Abnormen bildet so eine andere Wirklichkeit, und sie nutzt die Normalen schamlos aus. Da spreche ich aus Erfahrung.
    Einem Flaneur gleich fuhr ich gegen Mittag in die Stadt. Bei mildem Wetter waren hunderte unterwegs und ich folgte mal dieser, mal jener Gestalt, in Kaufhäuser und Bekleidungsgeschäfte, und wieder hinaus. Ich
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