Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das Feuer das am Nächsten liegt

Das Feuer das am Nächsten liegt

Titel: Das Feuer das am Nächsten liegt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Cherry Wilder
Vom Netzwerk:
einem Rundfenster mit einem Mittelpfosten aus goldenem Seil. Drinnen hätten Grande sich belustigen, der Musik lauschen, über ihre Kunstsammlungen plaudern, den Worten einer Wahrsagerin zuhören können. Statt dessen fiel das sanfte Licht auf Pergamentrollen, Runenbänder, Weidenpapier und Velin voller handgeschriebener Zeichen; eine riesige gewebte Karte von Torin stand auf einem Gestell in der Mitte des runden Gemachs. Es war das Arbeitszimmer in dem Wolkenkratzer des Großen Ältesten, Tiath Avran Pentroy, ein Raum voller Geheimnisse, zu dem nur wenige Zugang hatten. Ammur, die Oberhofmeisterin der Pentroys, hatte sich die fünf Schlüssel dieses Gemachs, hoch unter ihrem reichbestickten Ärmel, an ihren mageren Arm gebunden und legte sie nicht einmal beim Schlafen ab.
    Das Gemach zeugte von Bildung und Luxus, aber die zwei Wesen, die darin standen, hätten auf Menschenaugen seltsam gewirkt. Ihre lockeren Glieder, ihre großen Augen, die sonderbaren Haarbüschel auf ihrer blassen Haut, die Art, wie Ammur Ningan ihren langen Daumen und Zeigefinger auf ihrer Handfläche verschränkte: das waren moruianische Haltungen. Tiath Pentroy hatte sich wütend aus seinem Ledersessel erhoben:
    „Tot? Dahingewelkt? Du alte erbärmliche Sklavin hast ihn also umgebracht …“
    „Ein Mißgeschick!“ Die Stimme der Ningan schwoll zu einem bebendem Kreischen an, das dem Schrei eines Baumbären glich.
    „Tsorl-U-Tsorl starb an einer eiternden Kettenwunde. Die Heilerin von Itsik hat ihm ein Bein amputiert, aber das vermochte ihn nicht mehr zu retten.“
    „Ich wollte nicht, daß er stirbt.“ Tiath schaute aus dem Fenster über die weißen Wellenberge der Stadt und des Meeres dahinter. „Das ist ein schlechtes Omen“, sagte er.
    Er hob seine lange rechte Hand und bewegte sie scherenartig vor seinem Gesicht, indem er den dritten und vierten Finger auf- und zuklappte. Er machte das Abwehrzeichen gegen das Böse.
    „Hoheit“, sagte Ammur leise, „ich dachte, das sei Euer Wille.“
    „Mein Zorn ist verraucht“, sagte Tiath. „In der Angelegenheit mit Scott Gales Luftschiff war er unschuldig. Nantgeeb, der Wahrsager, stahl es. Tsorl war ein Gelehrter und ein Hersteller von Maschinen. Nur Nantgeeb konnte sich mit ihm messen.“
    „Tsorl war einmal eine Gefahr“, beharrte Ammur. „Ihr habt gegen ihn …“
    „Ich habe keinen Befehl erteilt. Mich trifft keine Schuld“, sagte Tiath mit gelassener Selbsttäuschung. „Tsorl mischte sich in die Politik ein. Die Feuersteinklette, die seiner Kreatur, Vel Ragan, das Gesicht verbrannte, hatte irgendein überbezahlter Unruhestifter geworfen.“
    „Außerdem“, fügte er hinzu, „wäre Tsorl, wenn wir einen Meuchelmörder gegen ihn gedingt hätten, längst tot.“
    Der Große Älteste trat zu dem Gestell in der Mitte des Gemachs und ging um die Karte herum, wobei er gelegentlich an einem Faden zog. „Wir erwarten einen Besucher“, sagte er.
    „Zu dieser Stunde?“
    „Es ist jemand, der Übung darin hat, das Meer zu beobachten, und an den Werften tätig ist“, sagte Tiath.
    „Ihr versucht, mich zu überrumpeln“, sagte Ammur Ningan. „Ihr hättet mir diese Dinge überlassen sollen.“
    „Deine Kräfte lassen nach“, sagte Tiath schroff. „Dein Geheimauftrag hinsichtlich Nantgeebs Zufluchtsortes hat zu nichts geführt. Ich hoffe nur, daß deine Spitzel recht hatten, was den Teufel, diesen Scott Gale, angeht …“
    „Vor zwei Tagen ist er an Bord eines Frachters Beldan zu den Inseln ausgelaufen. Er segelt zu der Insel namens Tsabeggan, das Nächstliegende Feuer.“
    Die Ningan stellte sich neben ihren Lehnsherrn, und sie starrten die westliche Hemisphäre von Torin an. Die gewebte Karte war sehr alt; die Konturen des Festlands und der Inseln waren durch phantasievolle Stickerei hervorgehoben worden. Es gab Anzeichen für Änderungen: die braunen Fäden, die die Ländereien des Dohtroy-Clans im Westen umrissen, waren mehrmals herausgezogen und anstelle einiger früherer Fäden wieder eingeflochten worden. Im Norden, am Fuße der Berge, umriß ein schwarzer Faden den Streifen Land der Pentroys. Es gab nur wenige von einem feuerroten Faden umrissene abgelegene Stellen, und eine davon lag auf der großen Insel namens Tsabeggan.
    „Tsatroy …“ murmelte Tiath. „Der Feuer-Clan besteht nicht mehr. Es war ein Pack tapferer Narren. Schau dir nur an, wie gut unsere friedlichen Freunde Dohtroy bei der Vernichtung der Tsatroys gefahren sind; ihre Ländereien haben sich fast

Weitere Kostenlose Bücher