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Das Evangelium nach Satan

Das Evangelium nach Satan

Titel: Das Evangelium nach Satan
Autoren: Patrick Graham
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die Nonnen die Brieftauben aussenden wollen, um Rom vor der drohenden Gefahr zu warnen, doch hätten die Tiere tot in ihren Käfigen gelegen, als habe die Luft um sie herum sie vergiftet.
    Im Feuerschein dann hatten die Nonnen gesehen, wie die Seelenräuber die Steilwände zum Kloster mit so großer Leichtigkeit erklommen, als könnten sie sich mit Händen und Füßen daran festsaugen. Die Schwestern hatten sich in die Bibliothek geflüchtet, um die verbotenen Schriften zu vernichten, doch sei es den Angreifern gelungen, sich mit Gewalt Zugang zum Kloster zu verschaffen, bevor die Nonnen eine Möglichkeit hatten, ihren Schatz in Asche zu verwandeln.
    Ein Schluchzen erschütterte die Brust der Alten, während sie mit leiser Stimme berichtete, dass man die jüngsten Schwestern mit rot glühenden Eisen geschändet und die anderen unter unsäglichen Qualen getötet habe. Von einer Nacht der Folter an Leib und Seele zerstört, sei es ihr gelungen, bei ihrer Flucht durch einen Geheimgang die göttlichen Knochen und eine in schwarzes Leder gebundene sehr alte Handschrift mitzunehmen. Sie wiederholte mehrfach, dass man das Buch keinesfalls öffnen dürfe, denn ein Schutzzauber werde jeden töten, der den Verschluss zu lösen versuche.
    Seine Seiten seien mit Menschenblut in einer aus wüsten Verwünschungen bestehenden Sprache beschrieben, deren Worte man nach Einbruch der Dunkelheit nicht aussprechen dürfe. Es stamme von der Hand des Satans selbst, es sei sein Evangelium und berichte die Vorfälle des Tages, an dem man den Sohn Gottes ans Kreuz geschlagen habe. Darin heiße es, Christus habe dabei seinen Glauben verloren, seinen Vater verflucht und sich in ein anderes Wesen verwandelt: ein brüllendes Ungeheuer, das die Römer mit Knüppeln hätten totschlagen müssen, um es zum Schweigen zu bringen.
    Über die alte Nonne gebeugt spürte Mutter Isolde das Gewicht des Schädels in der großen Tasche ihres Habits. Es war die Reliquie, von der die Alte gesagt hatte, es seien »göttliche Knochen«. In dem Buch, berichtete sie weiter, werde behauptet, die Jünger, die Zeugen geworden seien, wie Christus verflucht habe, hätten nächtens den Leichnam vom Kreuz abgenommen, um ihn fortzubringen. Danach hätten sie ihn in einer Höhle im Norden Galiläas an geheimer Stelle beigesetzt. Das sei der Kern des Satansevangeliums: die Ablehnung, die Verneinung von allem, die Große Lüge.
    Mutter Isolde schloss die Augen. Sollten sich die Dinge in der Tat so verhalten haben, wäre Christus nie von den Toten auferstanden, und damit gäbe es für die Menschen keinerlei Hoffnung auf ein Leben nach dem Tode. Kein Jenseits, keine Ewigkeit. Alles, was die Kirche lehrte, wäre falsch, auf Lüge gegründet. Hatten sich die Jünger getäuscht, oder hatten sie gewusst, was in Wahrheit geschehen war?
    »Herr, das ist unmöglich …«, sagte sie leise mit geballten Fäusten vor sich hin. Tränen stiegen ihr in die Augen. Einen Augenblick lang fühlte sie sich versucht, die verrückte Alte zu erwürgen, die das Unheil in ihr Kloster gebracht hatte. Nichts einfacher als das. Es hätte genügt, sie anschließend zusammen mit den Knochen und dem Evangelium im nahen Wald beizusetzen. Ein tiefes Grab inmitten von Farnkraut, ohne Stein oder Kreuz. Doch gerade jener Schädel, der als Beweisstück schwer in ihrem Habit hing, machte die Sache schwierig. Sie öffnete die Augen wieder, als die Alte in der Dunkelheit erneut mit röchelnder Stimme zu sprechen begann.
    Seit einem vollen Monat werde sie von den Seelenräubern verfolgt, deren Anführer, er heiße Kaleb, inmitten der durch die Pest hervorgerufenen Verwüstungen ihre Spur aufgenommen habe. Auf keinen Fall dürfe ihm das Satansevangelium in die Hände fallen, denn dann würde sich ein Jahrtausend des Unheils über die Erde senken und es werde Ozeane von Tränen geben. Die Worte »Ozeane von Tränen« wiederholte sie immer wieder wie eine Litanei und jedes Mal leiser, bis ihre Stimme erstarb und ihre Augen glasig wurden.
    Während die Oberin, noch entsetzt von dem Gehörten, ein Tuch über den geschundenen Leib der Alten breitete, krallten sich deren Hände unversehens um ihren Hals. Mit übermenschlicher Kraft drückte sie Isolde die Kehle zu, sodass dieser binnen weniger Augenblicke alles Blut aus dem Gehirn schwand. Die Oberin versuchte, sich aus dieser Umklammerung zu lösen, schlug die Alte sogar, damit sie losließ. Dann drang aus den reglosen Lippen der Toten eine andere Stimme. Nein, es war ein
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