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Das Evangelium nach Satan

Das Evangelium nach Satan

Titel: Das Evangelium nach Satan
Autoren: Patrick Graham
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veranlasst, sich so weit von der Welt zurückzuziehen. Aus dem gleichen Grund bedrohte ein Dekret der Kirche jeden mit einem qualvollen Tod, der das Gesicht einer dieser Nonnen enthüllte. Daher warf Mutter Isolde jetzt Gasparo einen streng verweisenden Blick zu, als dieser zu der Leidenden im Winkel seines Karrens hinübersah. Sie musste unbedingt feststellen, was die Unglückliche dazu gebracht hatte, sich so weit von ihrem geheimen Orden zu entfernen, und wie ihre schwachen Beine es vermocht hatten, sie bis hierherzutragen. Mit gesenktem Kopf schneuzte sich der Bauer mit den Fingern und murmelte dabei, man solle die Alte doch einfach töten und den Wölfen vorwerfen. Die Oberin tat so, als habe sie das nicht gehört, auch wenn sie vermutete, dass es längst zu spät war, die Sterbende in Quarantäne zu legen. Allmählich sank die Nacht herab.
    Ein Blick in die Achselhöhle und die Armbeuge der Alten zeigte Mutter Isolde, dass sie keinerlei Anzeichen der Pest aufwies, und so gebot sie ihren Nonnen, sie in eine Zelle zu tragen. Während diese sie leicht wie eine Feder vom Wagen hoben, fielen aus den Taschen ihres Gewands eine Tuchhülle und ein Lederbeutel zu Boden.

6
    Der Kreis der Nonnen hatte sich um diese überraschende Entdeckung geschlossen, und Mutter Isolde kniete sich nieder, um den Knoten zu lösen, der das Bündel zusammenhielt. Sie fand darin einen Menschenschädel, der hinten und an den Schläfen von Steinen zertrümmert worden zu sein schien. Sie hob ihn ans Licht.
    Die Knochen waren unübersehbar sehr alt, denn sie begannen an einigen Stellen bereits zu Staub zu zerfallen. Eine Spitze der Dornenkrone, die darauf saß, war durch den Brauenbogen gedrungen. Die Oberin strich mit den Fingerspitzen über das dürre Holz. Es war poncirus. Der Heiligen Schrift zufolge hatten die Römer aus den Zweigen jenes dornigen Strauchs die Krone geflochten, die sie Christus aufs Haupt gesetzt hatten, bevor sie ihn geißelten. Die heilige Krone, von der ein Dorn durch den Brauenbogen gedrungen war. Mutter Isolde spürte, wie sich ihre Eingeweide vor Angst zusammenkrampften: Der Schädel, den sie da in Händen hielt, wies alle in den Evangelien beschriebenen Merkmale der Leiden auf, die man Christus vor seinem Tod am Kreuz zugefügt hatte. Nur war er an mehreren Stellen zerschmettert, während es in der Heiligen Schrift hieß, kein einziger Stein habe das Gesicht Christi verletzt.
    Gerade als sie den Schädel hinlegen wollte, spürte sie ein sonderbares Pochen in ihren Fingerspitzen. Vor ihrem verschwommenen Blick sah sie von ferne den siebten der Hügel über Jerusalem, auf dem man dreizehn Jahrhunderte zuvor Christus ans Kreuz geschlagen hatte: die aus den Evangelien unter dem sprechenden Namen Golgatha bekannte Schädelstätte.
    In ihrer Vision, die allmählich immer deutlicher wurde, umdrängte eine riesige Menschenmenge die Spitze des Hügels, auf der römische Legionare drei Kreuze aufgerichtet hatten: ein großes in der Mitte, links und rechts davon zwei kleinere. Die beiden Schächer und der Heiland. Während jene reglos unter der stechenden Sonne an ihrem Kreuz hingen, gab Christus vor der entsetzten Menge Laute von sich, die nicht aus der Kehle eines Menschen zu kommen schienen.
    Sie kniff die Augen zusammen, um besser sehen zu können, und begriff, dass die Schächer schon lange tot waren, während sich Christus am Kreuz wand – und zwar anders als in den Evangelien berichtet, voll Hass und Wut.
    Während die Nonnen herbeieilten, um ihr beim Aufstehen zu helfen, hielt Mutter Isolde unverwandt den Blick auf das blutrote Dämmerlicht gerichtet, das ihre Vision erhellte. Auch das passte nicht zu dem, was berichtet wurde: Der Schrift zufolge hatte Christus um die dritte Stunde am Nachmittag den Geist aufgegeben, doch was sich da vor ihren Augen am Kreuz wand, war keineswegs tot. Im Staub kniend begann sie am ganzen Leib zu zittern. Für das, was sie sah, gab es eine Erklärung, und zwar eine so offenkundige, dass sie fast an ihrem Verstand gezweifelt hätte. Jenes Wesen, das leidend und hasserfüllt an den Nägeln zerrte und der Menschenmenge und dem Himmel fluchte, während die Römer mit Stöcken auf es einschlugen, um ihm die Glieder zu zerbrechen, dies gräuliche Geschöpf war nicht Gottes Sohn, sondern der des Satans.
    Mit zitternden Händen legte sie den Schädel auf seinen Lederbeutel zurück. Dann wischte sie sich mit dem Ärmel ihres Habits die Tränen ab und nahm die Tuchhülle auf, die im Staub vor
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