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Das Evangelium nach Satan

Das Evangelium nach Satan

Titel: Das Evangelium nach Satan
Autoren: Patrick Graham
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ihr lag.
    ∗ ∗ ∗
    Während sie jetzt in der Enge ihres Gelasses nach Luft ringt, erinnert sie sich an die entsetzliche Empfindung von Hass und Begierde, die sie überfallen hatte, kaum dass sie jenen Beutel in der Hand hielt. Das mochte auf die mit Essig versetzten Getränke zurückgehen, die sie wegen ihrer schmerzenden Gelenke einzunehmen pflegte. Angstvoll verzog sie ihre Miene, als sie die Hülle öffnete. Ein eiskalter Windstoß fuhr ihr über das Gesicht. Die Hülle enthielt ein sehr altes Buch mit Metallbeschlägen und einem kunstvollen Schloss, so schwer und dick wie ein Messbuch. Auf Rücken und Deckel des Einbands ließ sich keine Aufschrift und auch kein Prägestempel erkennen. Allem Anschein nach war es ein Buch wie tausend andere. Doch die sonderbare Hitze, die der Einband zu verströmen schien, vermittelte der Oberin sogleich die Vorahnung, dass soeben ein großes Unglück über ihr Kloster hereingebrochen war.

7
    Der Landmann Gasparo hatte den Heimweg angetreten. Während Mutter Isolde die Torflügel schloss, ertönten Entsetzensschreie aus dem Nordflügel, wohin die Nonnen die Sterbende gebracht hatten. So rasch sie konnte, eilte die Oberin die Stufen der Haupttreppe empor und durch die Gänge der Zelle entgegen, deren Tür offen stand. Die Schreie wurden immer lauter, je näher sie dem Raum kam. Die kalte Luft brannte ihr in der Kehle, als sie auf der Schwelle stehen blieb.
    Die alte Nonne lag nackt auf dem Lager. Ihr wirres Schamhaar stach scharf von der fahlen Haut des Unterleibs ab. Doch weder die bleiche Haut entsetzte die Augustinerinnen noch der entsetzlich dürre Leib oder der Schmutz, der die Beine bedeckte. Was sie zu den Schreien veranlasst hatte und was Mutter Isoldes Herz im selben Augenblick zerriss, da sie die Zelle betrat, waren die Male des Leidens, das man der Sterbenden zugefügt hatte, bevor es ihr, wie es aussah, gelungen war, von dort zu entfliehen, wo ihre Folterer sie gefangen gehalten hatten. Das und die weit aus den Höhlen hervorquellenden Augen, deren Blick sich durch den Schleier unverwandt auf die Decke richtete. Sie wirkte wie ein Standbild, das die Leere um sich herum betrachtet, Mutter Isolde beugte sich über den abgezehrten Leib. Nach den Striemen zu urteilen, die sich über den ganzen Rumpf zogen, hatte man sie bis aufs Blut ausgepeitscht, vermutlich mit zuvor in Essig getränkten geflochtenen Lederschnüren. Dutzende von Schlägen hatten die Haut zerfetzt und waren bis auf die Knochen durchgedrungen. Anschließend hatte man ihr die Finger gebrochen, mit einer Zange die Fingernägel herausgerissen und dann Nägel durch Arm-und Beinknochen geschlagen. Der Rest ihrer Köpfe ließ sich noch deutlich auf der Haut erkennen.
    Mutter Isolde schloss die Augen. Diese Folterung war nicht das Werk der Inquisition, denn um Hexen geständig zu machen, ging man anders vor. Was die alte Nonne erlitten hatte, musste das verbrecherische Werk von Ungeheuern sein, die sich an ihrem Opfer ausgetobt hatten, und zwar sowohl um ihr Geheimnisse abzupressen, als auch, um sie mutwillig zu quälen.
    Als das todgeweihte Geschöpf ein leises Stöhnen von sich gab, beugte sich Mutter Isolde dicht über die Alte, um ihre letzten Worte mitzubekommen. Sie sprach einen ausgestorbenen Alpendialekt, ein sonderbares Gemisch aus Latein, Deutsch und Italienisch, das die Oberin als Kind schon einmal gehört hatte. Die von Augenbewegungen begleiteten Worte waren mit Schnalzlauten untermischt – das geheime Verständigungsmittel der Weltfernen Schwestern.
    Die Unglückselige murmelte, das Reich Satans sei nahe und die Finsternis breite sich über der Welt aus. Die Pest sei das Werk des Höllenfürsten, der diese Geißel über die Menschheit gebracht habe, um sich ihr ungesehen nähern zu können. Auch wenn sich sämtliche Mönche und Nonnen der ganzen Christenheit im selben Augenblick zu Boden würfen, um Gott anzuflehen, dass er ihnen zu Hilfe komme, vermöchte kein Gebet mehr die aus der Hölle emporgestiegenen apokalyptischen Reiter aufzuhalten.
    Lange schwieg sie, während sie Kräfte zu sammeln versuchte. Dann fuhr sie in ihrem Bericht fort und erklärte, in einer Vollmondnacht hätten marschierende Reiter in Kapuzengewändern das Dorf Pratobornum angegriffen, dessen Bewohner abgeschlachtet und ihre Häuser angezündet: Seelenräuber. So entsetzlich sei das Wüten jener Dämonen gewesen, dass der Wind das Wehklagen ihrer Opfer bis hinauf zu ihrem Felsenkloster getragen habe. Daraufhin hätten
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