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Das Evangelium nach Satan

Das Evangelium nach Satan

Titel: Das Evangelium nach Satan
Autoren: Patrick Graham
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dünnen, wohlriechenden Schichten übereinander verarbeiten, auf dass der Einband schön kräftig werde; die Haut junger Zicklein, die Klosterbrüder jenseits des Alpenkamms mit Pigmenten färben, bevor sie sie auf Bretter aus Edelholz spannen, damit sie einen ganz bestimmten Glanz bekommen; die festen Schwarten der Klöster im Loiretal, die man in deutschen Klöstern mit Goldfäden verziert … Jede einzelne dieser Kongregationen von Leder verarbeitenden Mönchen darf nur eine ganz bestimmte Technik verwenden. Auf diese Weise will man erreichen, dass die Handschriften der heiligen Texte in den Klöstern bleiben, in denen sie verfasst worden sind, und nicht von einem Ort zum anderen wandern. Schon vor langer Zeit war eine Vorschrift erlassen worden, die gebot, jeden, der ein Buch unter seinem Gewand verbarg und dabei ertappt wurde, mit einem rot glühenden Eisen zu blenden und anschließend den Qualen des langsamen Todes zu überlassen. Diese Handschrift nun ist mit einem so sonderbaren Ledereinband versehen, dass sich Mutter Isolde nicht erinnern kann, je auch nur etwas annähernd Ähnliches mit den Fingerkuppen ertastet zu haben.
    Noch mehr aber erstaunt sie, dass der Einband nach keinem der von der Kirche vorgeschriebenen Verfahren hergestellt zu sein scheint. Besser gesagt vereint er sie alle in sich, gleichsam wie eine Krönung der Kunstfertigkeit der besten Buchbinder der Christenheit. Das lässt die Vermutung zu, dass der Band im Laufe der Zeit von kundigen Händen immer weiter verbessert worden ist. Dazu aber hätte er unter der Kutte von Mönchen verborgen von einem Kloster zum anderen wandern müssen, ähnlich wie ein kostbares Erbe, das von einer Generation zur nächsten weitergegeben wird – oder wie ein Fluch. Und wenn sich nun die Handschrift selbst den Ort ausgesucht hätte, an dem sie enden will?
    Isolde, mein Kind, träume nicht.
    Je mehr die Oberin dies uralte Werk befühlt, desto deutlicher spürt sie die sonderbare Wärme, die es ausströmt – als streichle ihre Hand, indem sie das Leder berührte, zugleich das Tier, das man gehäutet hat, um den Einband herstellen zu können: mit dem Schlagen seines Herzens, dem Puls in seinen Adern, der Bewegung seiner Muskeln, dem von Fett glänzenden Fell.
    Sie beugt sich vor, um die Gerüche aufzunehmen, die dem Band entströmen, Gerüche nach Stall, Dung und Schimmelkäse. Dahinter nimmt sie eine Note von feuchtem Stroh wahr sowie etwas, das sie an einen fernen Gestank nach Schweiß, Urin und Schmutz denken lässt. Sie zittert, als ihre Fingerspitzen endlich erkennen, was sie da betastet: Es ist die Haut eines schwarzen Ziegenbocks. Ein schwarzer Bock, mit einem Fell so warm und weich wie die Haut eines Menschen. Unvorstellbar, wie jemand auf den Gedanken verfallen sein mag, ein solches Tier abzubalgen, um aus seinem Fell Leder für einen Bucheinband zu machen.
    Allmählich werden Mutter Isoldes Liebkosungen des Leders zärtlicher, weiblicher – nahezu teuflisch, etwa wie die einer jungen Frau, die mit den Fingerspitzen sacht über den Unterleib des Geliebten fährt. Dabei spürt sie, wie die von der Handschrift ausstrahlende Wärme in ihre Bauchhöhle dringt und ihre Brüste strafft. Schließlich erliegt die alte und verdorrte Ehrwürdige Mutter, die keinerlei Freuden des Fleisches je gekannt hat außer jenen, welche die Hand widerstrebend gewährt, den Empfindungen, die ihren Körper nach und nach betäuben. Während sich ihre Seele ergibt, hat die Ehrwürdige Mutter eine weitere Vision.

9
    Es fängt mit Gerüchen an. Weihrauch und totes Holz. Luft, die nach Mutterboden und Fäulnis riecht. Ein Wald. Unter ihr ein Graslager. Isolde öffnet die Augen. Sie liegt nackt mitten auf einer vom Mond beschienenen Lichtung. Ein dunkles Knurren ertönt. Ein warmer Hauch streicht über ihr Gesicht, während ein Wesen mit festen Muskeln, halb Mensch, halb Bock, sich über sie beugt und ihre Hüften ergreift. Das borstige Fell an seinem Bauch drängt sich näher an sie. Die Haut auf seinen Armen und Schenkeln zittert unter der Anstrengung. Eine Haut, weich und glatt wie Leder. Sie schließt die Augen. Eine andere Vision tritt an die Stelle der ersten.
    Sie sieht sich im Untergeschoss einer Festung, die seit Jahrhunderten ausgestorbene Barbaren erobert haben. Wilde Ritter aus nördlichen Reichen, Krieger mit breiter Stirn und geschlitzten Augen, die einst die christlichen Reiche geplündert haben, bewachen die Zugänge zu den Folterkammern. Die Ritter sind mit
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