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Das Erwachen

Das Erwachen

Titel: Das Erwachen
Autoren: Edwin Klein
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abzuschließen. Und kurz vor dem Schlafengehen einen zweiten Rundgang, um sich selbst zu überprüfen. Nein, er habe keine Angst, aber man müsse in der heutigen Zeit vorsichtig sein, hatte er auf ihre Frage geantwortet. Außerdem sei es sehr wichtig, falls mal eingebrochen werden sollte. Wegen der Versicherung. Nur ein Fenster gekippt, schon würden die sich vor der Zahlung drü­cken.
    Sie konnte nicht einschlafen. Die Erinnerung an die vergan­genen Tage drängte sich auf, und sie wehrte sich nicht dage­gen. Eine Erinnerung, die ihr Angst machte.
    Leere. Unendliche Leere. Kein Anfang, kein Ende. Eine Ne­beldecke, die sich über alles legte, einlullte und verschluckte. Alles, bis auf das weit entfernte zaghafte Rauschen. Monoton, ermüdend und doch beruhigend.
    Keine klaren Gedanken, sie liefen ihr einfach davon, als wollten sie sich verstecken. Immer nur kurze Momente, in grelles Licht getaucht, sich schnell wieder im Nirgendwo auf­lösend. Danach eine Weile nichts, als stünde alles still. Als gäbe es keine Zeit, keine Erinnerung. Bis sich zögernd etwas aus dem Unbewussten schälte und anklopfte. Eindrücke mit ver­schwommenen, fließenden Konturen. Kerzenlicht, angenehm und weich, ein Abendessen zu zweit. Aber ihr Gegenüber hatte kein Gesicht. Babykleidung, ein Strampler in Blau, weil es ein Junge werden sollte. Und sie freute sich darauf, endlich Mutter zu werden. Dann ein alter Mann, nach vorn gebeugt, der sie mit der Würde seines Alters anlächelte. Und aus Liebe. Und ihr übers Haar streichelte. Aber wer war er?
    Die Bilder waren flüchtig, hinterließen keine Wirkung, ver­schmolzen mit neuen. Sie machte sich nicht die Mühe, sie fest­zuhalten oder ihnen zu folgen. Ihr fehlte die Kraft. Und die Konzentration. Aber sie sah auch keinen Sinn, sich mit der Ver­gangenheit zu beschäftigen, wo sie doch noch nicht einmal die Gegenwart erfassen konnte. Sie schwebte, sie tanzte, sie träum­te. Sie lief über Wolken, sprang von einer zur anderen, verfehlte sie und stürzte in eine schwarze Tiefe ohne Ende, ohne Auf­schlag. Neue Wolken trugen sie empor, ein neues Schweben, ein Gleiten mit verwunderten Augen. Sie spürte nichts, weder Kälte noch Wärme. Kein Wind, kein Prickeln. Und sie atmete nicht, dabei war ihr Mund offen und ihre Augen auch. Mit dem Laub der Bäume tanzen, auf den Sonnenstrahlen hüpfen, ihre Füße berührten nicht die Oberfläche eines Sees. Durch die Gicht eines Wasserfalls taumelte sie in einen Strudel, der sie verschluckte.
    Irgendwann spie der Strudel sie wieder aus.
    Ihr kam es vor, als hätte sie Jahre geschlafen. Mit dem schein­baren Erwachen wurden die Bilder klarer, farbiger, die Kon­turen schärfer. Und nun fühlte sie auch etwas. Auf ihrer Stirn. Kühl und feucht. Und dann auf dem Gesicht. Sie hörte eine Stimme. Eine Frauenstimme. Weich und einfühlsam. Jemand nahm ihre Hand. Aber es gelang ihr nicht, die Augen zu öff­nen. Zu gerne hätte sie gewusst, wer sie so umsorgte. Umsorg­te? Warum eigentlich umsorgte? Ging es ihr nicht gut? War sie etwa krank?
    Worte klangen dumpf und aus weiter Ferne, wie durch eine Wand aus Watte.
    »Nicht quälen. Bleiben Sie noch ein bisschen dort, wo Sie gerade sind.« Ihre Wange wurde gestreichelt.
    Wieso quälte sie sich? Und an welchem Ort sollte sie noch etwas länger bleiben? Wo war sie überhaupt? Etwa nicht zu­hause? Zuhause! Wo war denn ihr Zuhause?
    Jemand hob ihren Kopf an, ein Gegenstand drückte gegen ihre geöffneten Lippen, Flüssigkeit lief in den Mund und aus den Mundwinkeln über das Kinn. Sie schluckte automatisch und schmeckte nichts. Sie wollte etwas sagen. Vergeblich.
    Erneut die mitfühlende Stimme: »Bald sind Sie wieder bei uns.«
    Sie horchte in sich hinein. Der stetige Atem beruhigte sie. Und schläferte sie ein. Sie kämpfte dagegen an, erneut vom Nichts eingefangen und weggetragen zu werden, versuchte sich zu orientieren. Das helle glitzernde Viereck, dessen An­blick schmerzte, konnte sie einem Fenster zuordnen. Geblen­det drehte sie den Kopf zur Seite. Ihr Gesicht grub sich in ein Kissen. Deutlich der Pulsschlag in ihrem Ohr. Langsam und schwach. Aber auch irgendwie beruhigend. Ihre Lider wurden schwer, eine beschützende Dunkelheit wartete auf sie.
    Jemand glättete das Betttuch. Es knisterte und raschelte. Skurril die Geräusche, verzerrt und übersteigert, wie aus einer ihr unbekannten Welt. Silberpapier. Sie dachte an Silberpapier und Schokolade. Nussschokolade aus Luxemburg.
    »Wo …?« Sie
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