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Das Erwachen

Das Erwachen

Titel: Das Erwachen
Autoren: Edwin Klein
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Weile. Vom Gesicht konnte sie nur einen Teil sehen.
    »Ihnen geht es nicht gut. Ihnen geht es verdammt dreckig. Und Sie laufen davon. Sie haben Angst.«
    Trotzig warf sie den Kopf nach hinten und antwortete nicht.
    »Wovor haben Sie Angst?«
    Keine Reaktion.
    »Um Ihnen zu helfen, bin ich auf Sie angewiesen, Frau Ru­dolph oder wie Sie auch heißen mögen.«
    Wieder keine Reaktion.
    Die Ärztin blieb geduldig. »Wenn Sie sich mit dem Auto ver­fahren haben, dann fragen Sie nach dem Weg. Und wie mir scheint, haben Sie sich total verfahren. Sie kennen Ihren eige­nen Weg nicht mehr. Aber erstaunlicherweise suchen Sie auch nicht danach. Wissen Sie, wie man das bei uns nennt?«
    »Sie werden es mir sagen.«
    »Fatalismus. Schicksalsergebener Fatalismus. Sie stecken in einer Sackgasse, gehen immer weiter, stoßen an die Wand, ren­nen sich den Kopf ein und drehen sich nicht um. Und hinter Ihnen lauert die Vergangenheit, vor der sie flüchten. Und nach vorn gibt es kein Entkommen. Ist es nicht so?«
    »Schauen Sie, Frau Sigallas, es gibt Probleme, die man allein löst und solche, bei denen man Hilfe braucht. Ich …«
    »Das sagen am Anfang die meisten meiner Patienten«, wur­de sie unterbrochen. »Und dann kann es schon mal vorkom­men, dass die Betreffenden ihr Problem auch wirklich lösen, endgültig lösen. Sozusagen zum finalen Ende kommen, zum wirklichen Ende. Normalerweise dürfte ich nicht so mit Ihnen sprechen, Frau Rudolph, aber Sie sind auch auf dem besten Weg, Ihr finales Problem selbst zu lösen. Warum sonst sind Sie hier bei uns?«
    Als erkenne sie diesen Umstand erst in dem Augenblick, fragte sie: »Wie bin ich eigentlich hergekommen?«
    »Wie alle anderen auch. Mit dem Krankenwagen.«
    Die Ärztin sah, wie sie erschrak.
    »Mit dem Krankenwagen?«, wiederholte sie zweifelnd und hoffte, diese Annahme würde sich als falsch herausstellen.
    »Mit dem Krankenwagen.«
    »Und … und …«
    »Man hat Sie aufgegriffen. Verwirrt und apathisch. Und die Stelle, an der man Sie aufgegriffen hat, da hat man sozusagen schon viele aufgegriffen. Allerdings achtzig Meter tiefer. Sie alle kamen nicht mehr auf diese Station, sondern …« Die Ärz­tin erhob sich. »Und bei denen kam natürlich jedes Gespräch zu spät. Frau Rudolph, Sie sind erwachsen und alt genug, zu entscheiden, welchen Weg Sie gehen wollen. Sie erscheinen mir auch nicht übermäßig labil, sondern – entschuldigen Sie bitte meine Offenheit – eher kalkulierend und berechnend, was Ihr Schicksal anbelangt. Und da ich Sie auch nicht zu irgend etwas zwingen kann, warte ich, bis Sie sich bei mir melden. Vielleicht benötigen Sie noch etwas Besinnung. Zwei Tage verbleiben Ih­nen noch in unserem Hause. Sie wissen, wie Sie mich erreichen können.«
    Sandra erschrak über das abrupte Ende der Unterhaltung. Dabei hätte sie nur zu gerne mit jemandem gesprochen. Allein schon, um den enormen inneren Druck abzubauen, ihn mit der Ärztin zu teilen, von der sie Zuspruch und Beistand erwarten durfte. Carmen Sigallas hätte ihr vielleicht helfen können.
    Wenige Sekunden später jedoch verwarf sie diese Überle­gung wieder. Ihr Problem ging niemanden etwas an, sie würde es schon selbst lösen, auf ihre Art lösen. Und dazu brauchte sie keine Mitwisser. Oder vielleicht doch?
    Nach dem Mittagessen gegen elf Uhr zog sie das Nachthemd aus und kleidete sich an. Notdürftig machte sie sich mit den wenigen Kosmetika zurecht, die noch in ihrer Handtasche wa­ren. Leicht betonte sie die Augenbraue, schminkte die Lippen rotviolett, band ihr Haar mit einem Gummi zusammen und verließ das Krankenzimmer. Ohne sich umzuschauen ging sie zum Aufzug, fuhr in das Erdgeschoss, verließ das Gebäude, eilte zum Ausgang und winkte einem Taxi.
    Carmen Sigallas stand im 2. Stock am Fenster und beob­achtete sie. Als das Taxi um die Ecke bog, nickte sie, als hätte sie solch eine Reaktion erwartet. Aber ihr Nicken entsprang nicht dem Triumph der Ahnung um diesen fluchtartigen Ab­gang, sondern eher einer tiefer gehenden Resignation, weil sie es nicht geschafft hatte, Zugang zu der Patientin zu finden.
    Und dabei hätte sie nur zu gerne die Lebensgeschichte und die Hintergründe der Sandra Veronique Rudolph kennen gelernt. Hoffentlich war es kein Fehler, auf eine Einweisung in die Ge­schlossene zu verzichten, überlegte sie nachdenklich.
    Am kommenden Morgen, das Bett blieb zerwühlt, der Schlafanzug lag auf dem Boden, das Geschirr vom Frühstück ließ sie auf dem Tisch stehen, bestellte
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