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Das erste Mal und immer wieder

Das erste Mal und immer wieder

Titel: Das erste Mal und immer wieder
Autoren: Lisa Moos
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Bezug auf Missbrauch aus, wie sie mir viel später einmal erzählte. Für meine Mutter schien das jedoch unvorstellbar, was wohl daran lag, dass meine Tante auf Klaus getippt und gar nicht an »Opa Hans« gedacht hatte. So beließ sie es dabei und mischte sich nicht weiter ein.
    »Ja, Lisa?« Die Stimme meiner Mutter klang unwirsch durchs Telefon. »Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag!« Ich schluckte und konnte es mir doch denken. »Wieso hat mich denn keiner geweckt? Ich habe doch Schule«, sagte ich leicht vorwurfsvoll. Angriff soll ja die beste Verteidigung sein. »Lisa, hör bitte auf, mich zu verarschen. Die Rektorin hat mich noch gestern angerufen, um mir mitzuteilen, dass du nach der ersten großen Pause nicht mehr zum Unterricht zurückgekehrt bist, also wo warst du? Wir werden keine andere Schule mehr finden, und die Rektorin verzichtet darauf, dich wieder aufzunehmen. Also würde ich vorschlagen, du machst jetzt einfach, was du willst.«
    Damit legte sie den Hörer auf die Gabel, und ich stand ganz erschrocken im Schlafanzug am Schreibtisch, an diesem 21. Februar, meinem Geburtstag. Vor Schreck ließ ich mich auf den Schreibtischsessel plumpsen. Ich saß da und überlegte, meine Mutter erneut anzurufen, ließ es dann aber sein. Ich wusste auch nicht, was ich hätte sagen können, und so saß ich da und meine Augen wanderten im Zimmer umher.
    Ich sah auf das Bild über dem Schreibtisch; es zeugte vom einzigen Familienurlaub, den wir mit meinem leiblichen Vater unternommen hatten. Die Reise ging zur Hallig Hooge. Das Bild zeigte ein Aquarell mit einem Schiffswrack darauf. Dieses Schiffswrack existierte und war in diesem Urlaub meines Bruders und mein liebster Spielplatz gewesen. Bei einem Abendessen in einer kleinen Gaststube hatte mein Vater das Bild bei dem Wirt entdeckt und es ihm sogleich abgekauft. Unser Urlaub war damit beendet, die Urlaubskasse war leer, aber trotzdem waren wir alle fröhlich und heiter und freuten uns darüber, am meisten meine Mutter.
    Und nun hing das Bild hier, an einem Ort, an dem ich gar nicht sein wollte, und ich versuchte, mich daran zurückzuerinnern, aber ich kam nicht weit. Meine Erinnerung hörte auf, an einem Tag, an dem ich schon hier lebte, in diesem Haus, weiter kam ich nie zurück. An das Gesicht meines Vaters konnte ich mich noch gut erinnern, seine Stimme konnte ich hören, aber es war kein einziger Tag in meinem Kopf, den ich wirklich rekonstruieren konnte. Was war bloß los mit mir? Wie immer fand ich keine Antworten, wusste keinen Weg zurück in den Kreis der Familie. Ich sah mich in der Zukunft ganz auf mich allein gestellt und bemitleidete mich, fühlte mich als Opfer und konnte doch keinen Feind klar erkennen. Ich hasste mich an diesem Morgen eigentlich nur selber.
    Vielleicht war es dieser Tag, an dem ich zum ersten Mal beschlossen hatte, mich zu wehren. Mich zu verändern. Auf der Reise, der Suche, endlich ein Ziel zu finden. Ich wollte mich mitteilen, musste jemanden finden, mit dem ich über alles sprechen konnte. Ich ging im Geiste alle Personen durch. Aber fündig wurde ich nicht.
    Bevor mich jemand antreffen konnte, verließ ich das Haus. Ich schminkte mich großzügig und provokant mit schwarzer Farbe und stöckelte mit meinem in Plastik verpackten Geburtstagskuchen Richtung Entenweg. Zwar war es noch nicht 18.00 Uhr, aber ich hoffte, mich vor dem Haus von Heinz Kohlke unbemerkt bemerkbar machen zu können, um Marianne rauszulocken.
    Auf dem Weg dorthin schlenderte ich auffällig und laut durch die Neubausiedlung, wo alle Häuser von Familien bewohnt wurden, die so steif wie die Arme meines Teddybären waren. Ganz sicher bot ich hier keinen gewöhnlichen Anblick, in dieser Gegend legten alle ganz besonderen Wert auf Anstand und Ordnung und bemitleideten meine Familie, mit »so etwas wie mir bestraft worden zu sein«. Die Mädchen wurden vor mir gewarnt, den Jungen wurde der Umgang mit mir verboten, und obgleich ich mich dabei nicht unbedingt wohl fühlte, so war es mir doch ziemlich egal, was alle dachten. Den meisten erschien es nur logisch, dass ich ganz sicher mit Drogen vollgepumpt oder mit Alkoholreserven in der Tasche mein kleines Leben fristete. Aber an solche Dinge dachte ich nicht einmal.
    Meine eigene verstörte Persönlichkeit reichte in diesen Tagen vollkommen aus, mich in Hochstimmungen oder tiefste Depressionen zu versetzen. Provokation war meine einzige Leidenschaft zu dieser Zeit. Den Entenweg hinuntersteigend, verlangsamte ich meine
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