Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das erste Mal und immer wieder

Das erste Mal und immer wieder

Titel: Das erste Mal und immer wieder
Autoren: Lisa Moos
Vom Netzwerk:
wie ein schräg gestellter Karton, genauso breit wie lang und hoch. Es war das einzige Haus am Entenweg, der aus der Mitte unseres Dorfes eine Abkürzung auf die Hauptstraße bot. Doch nur die Wenigsten nutzten diese Möglichkeit der Zeitersparnis. Heinz Kohlke war ein öffentlich Verschmähter, ein ausgestoßener alter Mann, der die letzten zehn Jahre seines Lebens sein Haus nicht mehr verlassen hatte. Ich glaube, nur wenige Dorfbewohner hatten ihn je gesehen. Die Jahre, in denen er anerkannt mit seiner Familie dort gelebt haben muss, waren lange vorbei und niemand erinnerte sich daran.
    Aber gehört haben ihn wohl alle. Seine keifende, grelle Stimme tönte Tag und Nacht erschreckend laut aus dem windschiefen Haus. Opfer seiner verbalen Attacken waren meist seine Töchter, die Söhne hatten schon früh die Flucht vor ihm ergriffen. Die Mädchen aber schmissen sich jedem Mann an den Hals, um der häuslichen Situation möglichst bald durch Heirat zu entkommen.
    Heinz war klein, von schmächtiger Statur, und sah genauso aus, wie er roch: völlig verwahrlost, ungewaschen, ungepflegt. In seinem Gesicht prangte eine riesige Hakennase, und seine Haut war verwittert und sah aus wie gegerbtes Leder. Früher soll er mal ein stattlicher Mann in der französischen Fremdenlegion gewesen sein. Aber davon war nichts mehr geblieben. Einzig seine kleinen grauen Augen, stets rot durchzogen vom billigen Fusel, erinnerten daran, wenn sie kämpferisch aufblitzten. Das taten sie oft, genauer gesagt vor jeder seiner Wutattacken. Laufen konnte er kaum noch, eher schleppend bewegte er sich träge und auf einen uralten Gehstock gestützt, wobei er schwankte und vor sich hin schimpfte. So schleppte er sich tagein, tagaus vom Schlafzimmer im ersten Stock hinunter in seine Wohnstube, den einzig beheizbaren Raum in dem ganzen Haus. Gefeuert wurde in einem alten, kleinen Ofen, dem ein dickes verrußtes Rohr Abzug gewährte. Holzscheite, die im angrenzenden alten Stall lagerten, waren das Brennmaterial, und war es mal aus, riss er einfach ein paar Latten von der einstigen Schafsunterkunft ab.
    Das fast 150 Jahre alte Häuschen roch feucht und schimmelig, die wenigen Möbel, die die Ecken und Räume zierten, waren allesamt durch die feuchte Luft unbrauchbar geworden. Ein paar gestickte Decken, zerrissene Vorhänge oder auch Einzelteile guten Geschirrs zeugten davon, dass hier mal eine tüchtige Frau bemüht gewesen war, ein gemütliches Zuhause für sich und ihre Familie zu schaffen. Aber nach ihrem Tod verkam alles, die Buben verließen schnell das Haus, und die Töchter begannen, ihr abgelegenes und verkommenes Dasein zu hassen. Sie waren weg, noch bevor sie 18 wurden.
    Ich kann mich erinnern, dass bei starkem Regen das Wasser vom Berg hinunter, durch den Stall und die angrenzende Küche, den Flur entlangrann, um vorne beim Eingang unter der Tür durch wieder abzulaufen. Viele Male habe ich mit einer alten Schneeschippe, die ich im Stallgebäude fand, literweise Wasser aus dem Haus geschaufelt. Teppiche gab es keine, nirgends einen Bodenbelag, nur Küche und Badezimmer waren irgendwann einmal gefliest worden. Wasser und Strom gab es selten bis nie, und so wurde über Putzen oder Ähnliches auch niemals wirklich nachgedacht. Heinz selbst legte keinen Wert auf seine Umgebung, und Besuch gab es, außer vom Sozialhelfer, niemals. Wenn doch mal jemand klopfte, denn eine Klingel gab es nicht, so wurde er unter lautem, unflätigem Schimpfen und Keifen von der Tür vertrieben. Es gab weder einen Fernseher noch ein Radio im Haus. Der alte Heinz saß immer nur so da, meist allein.
    Selbst die Anwesenheit der jüngsten, ihm verbliebenen Tochter Marianne, die meist außerhalb des Hauses vom Sozialnetz des Ortes mehr oder weniger versorgt wurde, schätzte er nicht. Er fühlte sich verraten und verkauft vom Leben und betrauerte und beklagte ununterbrochen den frühen Tod seiner Frau, die ihn in diesem »Schweinestall mit den missratenen, verkommenen Gören zurückgelassen hatte«.
    So saß er da in der Ecke des Zimmers, unbeweglich auf dem durchgesessenen, verschlissenen, uralten Federsofa, beide Hände vor sich auf den Stock gestützt oder zurückgelehnt, ins Nichts starrend.
    Schon immer hatte dieses verbotene Haus für uns Dorfkinder etwas magisch Anziehendes, und nicht nur einmal wurden wir von Heinzens lautstarkem Keifen vertrieben, wenn er uns dabei ertappte, wie wir versuchten, in eines der verschmutzten Fenster zu schauen. Stets ergriffen wir sofort
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher