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Das einzige Kind

Das einzige Kind

Titel: Das einzige Kind
Autoren: Anne Holt
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unerträglichen Tatsache, daß sie hier einer Mörderin gegenübersaß und keine Ahnung hatte, wie sie ihre Aufgabe erfüllen sollte: dafür zu sorgen, daß diese Frau ihre wohlverdiente Strafe bekam. Zu beweisen, daß sie den Mord begangen hatte.
    Sie verdrängte dieses Gefühl, wußte aber, daß es sich wieder einstellen würde, wenn nicht bald etwas passierte.
    »Sie brauchten keine Angst vor Fingerabdrücken zu haben.
    Abgesehen von dem Messer natürlich, aber da waren sie ja leicht abzuwischen. Mit einem Handgriff. Alle anderen Fingerabdrücke gehörten doch dahin. Sie waren hundertmal in dem Büro gewesen. Und das hat uns erklärt, warum Sie die anderen Messer mitgenommen hatten.«
    Maren Kalsvik bewegte sich nun zum erstenmal während des Verhörs. Steif und starr beugte sie sich zu ihrer Kaffeetasse, deren Inhalt dick und kalt und extrem stark war. Sie zwinkerte zweimal heftig, kniff die Augen zusammen, als sei ihr ein Staubkorn hineingeraten. Eine winzige Träne hing links an einer 265
    Wimper, dann löste sie sich und rollte ihr langsam über die Wange. Sie war so klein, daß sie verbraucht war, noch ehe sie den Mund erreicht hatte. Dann sank Maren in ihre
    pappfigurenhafte Haltung zurück.
    »Und jetzt«, sagte Hanne und erhob sich, »werde ich Ihnen zeigen, was ich glaube. Ich werde Ihnen zeigen, warum wir schon sehr früh erkannt haben, daß der Mörder im Heim ein und aus gehen mußte und sich nicht vor Fingerabdrücken zu fürchten brauchte.«
    Sie ging zur Tür und öffnete sie. Draußen war es menschenleer und ziemlich dunkel.
    »Jetzt bin ich Sie, ja?« Sie zeigte abwechselnd auf sich und auf die andere. »Ich habe gerade einen Menschen umgebracht. Ich bin außer mir, ich bin verzweifelt, und das Allerwichtigste: Ich will nicht erwischt werden. Also muß ich machen, daß ich wegkomme. Aber dann fällt mir vielleicht wieder ein, was passiert ist, nachdem ich Agnes erstochen hatte.«
    Maren Kalsvik sah Hanne nicht an. Sie saß weiterhin still da und kehrte der Tür ihr Profil zu. Hanne seufzte, ging zu ihr und faßte ihr unter das Kinn. Das Gesicht war eiskalt, der Kopf schlaff, und die Hauptkommissarin konnte den Kontakt problemlos erzwingen.
    »Wenn man ein Messer unter anderen Messern hervorzieht, dann muß man sehr geschickt sein, wenn man die anderen nicht berühren will. Das ist so gut wie unmöglich, wenn man nicht die Zeit hat, es vorsichtig herauszubugsieren. Schauen Sie!«
    Sie zog vier längliche Gegenstände aus einer Schublade: Einen Brieföffner, ein schmales ledernes Federmäppchen, einen Filzstift und ein Funktelefon. Das alles legte sie auf die Tischplatte.
    »Wenn ich etwas davon hochheben will, ohne genau zu wissen, was, dann passiert folgendes.«
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    Sie packte den Brieföffner, und nun war klar, was sie meinte.
    Sie hatte auch die anderen drei Gegenstände berührt. Wie sie das Billy in einer Kneipe in Grünerløkka vorgeführt hatte.
    »Sie konnten sich keine Zeit lassen. Sie haben doch im Affekt gehandelt. Aus der Wut und Verzweiflung dieses Augenblicks heraus. Und Ihre Fingerabdrücke durften um keinen Preis auf den restlichen Messern gefunden werden. Sie hätten sie abwischen können. Aber das hätte seine Zeit gedauert.«
    Sie ließ das Kinn der anderen los und ging zum Fenster.
    »Natürlich hätte jeder sich gefürchtet, wenn seine Fingerabdrücke auf dem Messer gewesen wären. Aber, wissen Sie …«
    Ihre Handflächen berührten das kalte Glas, und sie legte eine Pause ein, ehe sie sich umdrehte und hinzufügte: »Wenn ein Außenstehender den Mord begangen hätte, dann hätte er auch Angst haben müssen, daß seine Fingerabdrücke noch woanders sein könnten. Für diesen Fremden haben wir zwei Theorien: Entweder war er gekommen, um ein Verbrechen zu begehen.
    Dann hätte er Handschuhe getragen. Und keinen Grund gehabt, die Messer mitzunehmen. Oder er hatte den Mord nicht geplant.
    Und hat im Affekt gehandelt. Und dann wären die Messer das geringste Problem gewesen. Er hätte noch viele andere Stellen abwischen müssen. Die Türklinke. Die Tischplatte, vielleicht.
    Die Sessellehne. Was weiß ich. Man faßt immer irgend etwas an, wenn man ein Zimmer betritt. Daran ist es mir
    klargeworden.«
    Maren Kalsvik bewegte sich noch immer nicht. Sie schien nicht einmal zu atmen.
    »In dem ganzen großen Büro war keine einzige Fläche abgewischt worden. Überall Fingerabdrücke und Staub und allerlei kleiner Schmutz. Niemand hatte sich die Zeit zum Saubermachen genommen. Wer immer
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