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Das einzige Kind

Das einzige Kind

Titel: Das einzige Kind
Autoren: Anne Holt
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ziemlich leise. In den anderen Zimmern schliefen doch die Kinder. Wenn auch nicht im Nachbarzimmer.
    Aber um ganz ehrlich zu sein …«
    Hanne Wilhelmsen unterbrach sich und schickte das Flugzeug in elegantem Bogen zur Decke. Es blieb einen Moment lang stehen, als es den höchsten Punkt des Bogens erreicht hatte, dann drehte es sich rasch und setzte zur Landung auf der Fensterbank an. Maren Kalsvik ließ sich nicht stören und würdigte den Flieger keines Blickes.
    »Ich habe versucht, mir ein Bild von der Situation zu machen«, sagte Hanne freundlich. »Versucht, mir vorzustellen, was es für ein Gefühl ist, entlarvt zu werden. Wenn mein Chef zum Beispiel herausfindet, daß ich gar nicht auf der Polizeischule war. Wenn alle das erfahren. Wenn ich gefeuert werde und arbeitslos bin.«
    Sie ließ ein wenig Kaffee in den überfüllten Aschenbecher tropfen und kippte dessen feuchten Inhalt in den Papierkorb.
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    Dann griff sie in eine Schublade, zog vier Papiertaschentücher heraus und trocknete damit den Aschenbecher ab, ehe sie sich eine neue Zigarette ansteckte.
    »Ich würde ganz einfach zusammenbrechen. Ich meine, nach so vielen Jahren, in denen ich wirklich gute Arbeit geleistet habe, soll eine Bagatelle wie ein Stück Papier mein ganzes Leben auf den Kopf stellen?«
    Sie legte den Kopf schräg und schnalzte mit der Zunge. »Das soll kein Witz sein, Maren«, sagte sie leise. »Ich meine das wirklich. Ich würde zusammenbrechen. Und obwohl meine Arbeit mir sehr viel bedeutet, glaube ich, daß Ihre Ihnen noch wichtiger ist. Das sehe ich daran, wie Sie die Kinder behandeln.«
    Eine Kette von Rauchringen zog sich zur Decke hoch. Eine Weile herrschte tiefes Schweigen. Nur auf dem Flur waren noch Schritte zu hören. Das Haus leerte sich so kurz vor dem Wochenende.
    »Sagen Sie es mir, wenn ich mich irre«, sagte Hanne plötzlich aufmunternd und fing endlich den Blick der anderen auf, die auf ihrem Stuhl herumrutschte, den Kopf schüttelte und etwas murmelte, das Hanne nicht verstehen konnte. Dann fiel sie wieder zurück in ihre Rolle einer Sphinx.
    »Vielleicht haben Sie um Gnade gebeten. Das hätte ich gemacht«, fuhr Hanne unangefochten fort. »Aber Agnes …
    wissen Sie überhaupt, wofür Agnes steht? Für eine reine, jungfräuliche Person. Die heilige Agnes war tugendhaft, aber starrköpfig. Und das hat ihr den Tod gebracht. War unsere Agnes ebenso starrköpfig?«
    Maren antwortete natürlich nicht, aber ihr Gesicht war jetzt fast durchsichtig bleich.
    »Das war sie vermutlich«, fuhr Hanne fort, als keine verbale Bestätigung kam. »Und jetzt hätte ich gern ein paar Einzelheiten. Sehen Sie mich an!«
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    Sie schlug mit beiden Fäusten auf den Tisch, und Maren Kalsvik fuhr zusammen. Einen Moment lang hingen ihre Blicke aneinander, dann verloren sie sich wieder. Hanne schüttelte den Kopf.
    »Auf dem Tisch lagen Messer. Agnes’ frischgeschliffene Messer. Auf dem Schreibtisch oder vielleicht auch im Regal.
    Wo genau, ist nicht so wichtig. Sie sind jedenfalls durch das Zimmer gegangen und standen hinter Agnes, als Sie plötzlich ausgerastet sind. Das geht extrem schnell. Ehe man sich’s versieht, ist es passiert. Sie griffen nach einem Messer und stießen es ihr in den Rücken. Sie waren wütend, Sie waren verzweifelt, Sie waren einfach außer sich. Ein Verteidiger kann daraus viel machen, Maren. Sehr viel. Vielleicht wird das Gericht sogar zu der Überzeugung gelangen, daß Sie im Augenblick der Tat nicht bei klarem Bewußtsein waren. Ein Anwalt wird Ihnen helfen können.«
    Sie rollte mit ihrem Sessel zum Fenster, um es zu öffnen. Die Luft im Zimmer war grau vom Zigarettenrauch. Jetzt wurde es kalt.
    »Soll ich einen Anwalt verständigen?«
    »Nein.«
    Maren Kalsvik saß schon so lange unbeweglich da, daß ihre Stimmbänder wie gelähmt waren, ihre Antwort klang eher wie ein Räuspern. Hanne verfluchte Billy T., der sich noch immer nicht gemeldet hatte.
    »Sind Sie sicher?«
    »Ja.«
    »Na gut. Dann mache ich weiter. Sie konnten vermutlich nicht fassen, was Sie da getan hatten. Morde, wissen Sie, werden fast immer im Affekt begangen. Sie hatten das alles nicht geplant.
    Und auch das wäre ein gefundenes Fressen für einen Verteidiger.«
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    Hanne schlug das Osloer Branchenfernsprechbuch auf und suchte die Seite mit den Anwälten. Dann legte sie das aufgeschlagene Buch vor Maren Kalsvik auf den Tisch.
    »Ich würde Ihnen wirklich empfehlen, einen anzurufen.«
    Die Frau gab keine Antwort, sie schüttelte nur
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