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Das einzige Kind

Das einzige Kind

Titel: Das einzige Kind
Autoren: Anne Holt
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auf. Oben, zwischen Kartoffelschalen und zwei alten Wurstzipfeln, lag ein längliches, in Zeitungspapier gewickeltes Päckchen. Er hob es vorsichtig hoch und hielt es Cathrine hin, die mit in die Seiten gestemmten Händen und saurer Miene in der Tür stand.
    »Das hier?« fragte er, und sie nickte kurz.
    Achtzehn Minuten später traf er im Polizeigebäude ein, wo eine erschöpfte und gereizte Kollegin sich nach ihrem Wochenende sehnte.

    Es war zehn Uhr, bald würde sie aufhören müssen. Und sie würde Billy T. zusammenstauchen. Es war übel, den
    Freitagabend so zu vergeuden. Das war noch schlimmer als die Tatsache, daß Cecilie den ganzen nächsten Tag noch schmollen würde. Das Allerschlimmste war, daß sie Maren Kalsvik laufenlassen mußte.
    »Es ist schon komisch, wissen Sie«, sagte sie leise zu der stummen Frau und seufzte fast unhörbar. »Es ist schon seltsam, wie sich im Menschenleben immer wieder Turbulenzen entwickeln. Das ist bei fast allen so.«
    Sie hob die Arme und gähnte, dann zog sie eine Schere aus der Schreibtischschublade und schnitt aus einem vollgeschriebenen Schreibblock Pappfiguren aus.
    »So bin ich eben«, sagte sie mehr zu sich selbst. »Muß meine Finger immer irgendwie beschäftigen. Deshalb schaffe ich es auch nicht, mit dem Rauchen aufzuhören.«
    Sie blickte beschämt zu ihrem zweiten Zigarettenpäckchen an diesem Tag hinüber.
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    »Nehmen Sie einen ganz normalen Menschen. Eine
    Durchschnittsperson.«
    Sie hatte eine Frau mit langen Röcken ausgeschnitten. Mit schräggelegtem Kopf und zufriedener Miene malte sie ihr nun ein Gesicht. Dann wurde das Kleid mit rosa Textmarker gefärbt.
    Als die Figur fertig war, lehnte sie sie an ihre Kaffeetasse. Da stand sie nun, schräg, steif und starr, mit breitem, blauem Lächeln.
    »Agnes Vestavik, zum Beispiel«, sagte Hanne leichthin und zeigte auf die Pappfrau. »Wir stochern im Leben eines scheinbar langweiligen, normalen und braven Menschen herum. Und dann stellt es sich heraus, daß die Wirklichkeit ganz anders aussieht.
    Es gibt immer noch mehr. Nichts ist so, wie es auf den ersten Blick aussieht. Wir haben alle unsere Schattenseiten. Wenn ich ermordet würde, zum Beispiel …«
    Sie unterbrach sich. Es war spät. Sie war todmüde. Die Frau vor ihr war eine Fremde. Sie sagte: »Wenn mich irgendwer ermordete, dann würden die Ermittler eine gewaltige Überraschung erleben.«
    Sie lachte leise.
    »Die Welt ist ein einziger großer Betrug. Ein Zerrbild. Sehen Sie sich doch bloß selbst an.«
    Die Pappfrau kippte um, aber Maren Kalsvik achtete nicht darauf.
    »Ich mag Sie, Maren. Ich halte Sie für einen guten Menschen.
    Sie leisten wichtige Arbeit. Arbeit, die etwas bedeutet. Und dann passieren Dinge, über die Sie keine Kontrolle haben, und plötzlich sitzen Sie hier. Sie haben einen Menschen getötet. Die Wege des Herrn sind unergründlich.«
    Hanne Wilhelmsen hatte keine Ahnung, ob Maren Kalsvik ihr überhaupt noch zuhörte. Kurz darauf wurde an die Tür geklopft.
    Es war Billy T.
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    Sie wollte ihn mit einem mörderischen Blick bedenken, doch das war vergessen, als sie sein Gesicht sah. Er brachte irgend etwas mit. Und dieses Etwas war keine Kleinigkeit.
    »Kann ich dich draußen kurz sprechen, Hanne?« fragte er leise und freundlich.
    »Aber klar, Billy T.«, sagte Hanne Wilhelmsen. »Aber klar.«
    Sie blieben so lange draußen. Rote und weiße Punkte tanzten vor ihren geschlossenen Augen, und in ihren Ohren war ein leises Rauschen. Ansonsten herrschte Totenstille. Als sie vorsichtig ihren Hintern anhob, merkte sie, daß ihre Beine eingeschlafen waren. Sie spürte einen brennenden, stechenden Schmerz in sämtlichen Muskeln, steif richtete sie sich auf.
    Die Geschichte mit dem gefälschten Zeugnis hatte sie während der vergangenen vier Jahre fast vergessen. Es war eine Katastrophe gewesen. Sie hatte schon in der Schule bei Prüfungen arge Probleme gehabt. Das Abitur war die Hölle gewesen. Gute Noten während des Schuljahrs, schlechte Examensresultate. Und es war immer nur noch schlimmer geworden.
    Die Hausarbeit, für die sie eine Woche Zeit gehabt hatte, war ihr gut gelungen. Aber dann kamen die Prüfungen. Und irgend etwas passierte mit ihr, wenn sie auch nur einen Fuß in ein Examenszimmer setzte. Die weit auseinander stehenden Tische, die alten schwerhörigen Tanten, die sie am Schummeln hindern sollten, die Pausenbrote, Thermosflaschen, Federmäppchen, das hektische Geflüster, ehe die Aufgaben ausgeteilt wurden, die
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