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Das Echolot Abgesang '45. Ein kollektives Tagebuch (4. Teil des Echolot-Projekts) - Kempowski, W: Echolot/Abgesang '45

Titel: Das Echolot Abgesang '45. Ein kollektives Tagebuch (4. Teil des Echolot-Projekts) - Kempowski, W: Echolot/Abgesang '45
Autoren: Walter Kempowski
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von allen Seiten weiter vor, und die Fliegeralarme dauern den ganzen Tag. Die Frau des Obersten scheint jedoch all diese Kundgebungen zu glauben. Sie ist überzeugt, daß Deutschland eine geheime Wunderwaffe besitzt, die in letzter Minute eingesetzt werden wird; die Arme kann sich nicht vorstellen, wie sie sonst derartige Dinge sagen könnten. Sie besteht darauf, daß wir mit ihr frühstücken. Das ist sehr freundlich von ihr, denn es ist unsere einzige Mahlzeit am Tage.
    Der Rittmeister Gerhard Boldt
Zossen
    Man verbreitet das Gerücht einer Befreiungsarmee. Flugblätter werden über Berlin abgeworfen: «Die Armee Wenk kommt und gibt euch Freiheit und Sieg». Aber diese 12. Armee, nach ihrem Führer, dem General der Panzertruppen Wenk, genannt, ist in Wirklichkeit keine Armee. Von ihren neun Divisionen stehen sechs auf dem Papier, nur drei Divisionen, also ein Korps, waren zu voller Aufstellung gekommen. Die drei Divisionen sind sehr schlecht ausgerüstet und bewaffnet. Fast 90 Prozent der Leute sind 17- und 18jährige kriegsunkundige Offiziersanwärter. Es gibt Gruppen, wo nicht einmal die Hälfte der Leute mit Waffen versehen ist. Das war die «Befreiungsarmee». Als Hitler sie am 5. oder 6. April Wenk übergab, sagte er feierlich: «Wenk, in Ihre Hände lege ich das Schicksal Deutschlands!»
    *
    Ernst Jünger 1895 –1998
Kirchhorst
    Weiter im Hiob. Mehr erfaßt keine Philosophie; der Schmerz ist der tiefste Goldgräber.
    Thomas Mann 1875 –1955
Pacific Palisades
    Schulterte wieder den Roman und schrieb etwas weiter an XXVI. – Mit K. in der Nähe gegangen. [...] Abschrift der deutschen Ansprache, geübt. –
    Heimito von Doderer 1896–1966
Aalborg
    Park Hotel, beim Frühstück [...]
    Gestern vor dem Schlafengehen und heute beim Aufstehen mußte ich mich des Rauchens enthalten, weil mir die Streichhölzer fehlten: das hat zur Folge, daß mir die Frühstücks-Zigarette einen kleinen Schwips erzeugt.
    Mir scheint, man spürt, in der Uniform wandelnd, hier in ephemeren Kleinigkeiten die allgemeine Situation: Unverschämtheit der nach früheren Wiener Maßstäben ohnehin schlecht erzogenen dänischen Kellner (an Norddeutschland erinnernd) – das letztere erseh’ ich aus dem Verhalten gegen dänische Gäste – und dergleichen. Ein wenig Marmelade auf den Frühstückstisch zu bekommen, erfordert umständliche Urgenzen, wobei zunächst erklärt wird, es sei keine da, bis sie am Ende doppelt erscheint ... So geht man heute durch die Welt: haftbar für’s Kollektiv. Die Brücke zwischen innen und außen, die Brücke der Wirklichkeit, ist zerbrochen.
    Heute drei Seiten Prosa, Melzers Abreise.
    Wilhelm Hausenstein 1882–1957
Tutzing
    Diese Nacht das «Riesenspielzeug» von Emil Strauß in großen Zügen zu Ende gelesen. Ich bin sonst ein langsamer, pedantisch genauer Leser, ein sehr umständlicher; aber gegenüber diesem Buch hat mich denn doch die Ungeduld gepackt; die Ausführlichkeit (der beiläufigen Gespräche zum Beispiel) scheint mir zum Gewicht des Ganzen nicht im richtigen Verhältnis zu stehen; das Exkursive und Diskursive hat mich ermüdet und mir die Konzentration unmöglich gemacht. So habe ich, was ich sonst nie tue, ganze Seiten überschlagen, und endlich habe ich mich von dem Buch ohne Schmerz getrennt, obwohl es mich vom Landschaftlichen her ja ganz besonders angeht. Dabei verkannte ich nicht das Gescheite und gut Formulierte, das oft aufleuchtet.
    *
    Der Offizier
Udo von Alvensleben 1897–1962
Norwegen
    Hitlers Geburtstag. Man feiert in Saetermoen mit Streichquartett, Chorgesang, Ordensverleihungen, Beförderungen, Pudding und Sonderzuteilungen. Zur gleichen Zeit umklammern die Russen Berlin. Deutsche Truppen stehen sinnlos unentwegt am Nordkap, am Apennin und auf Kreta. Im Kessel des Reichs fluten die Menschen von Schrecken gejagtziellos hin und her, während Bombenteppiche auf Ortschaften und Straßenkreuzungen niederprasseln.
    Christian Graf von Krockow 1927–2002
Kav allerieschule
    Næstved/Insel Seeland
    Wie zum Hohn: Großer Aufmarsch zu Führers Geburtstag. Es wird wohl das letzte Mal sein. Orden werden verliehen. Unser Rittmeister, hochdekoriert, ärgert sich über das Kriegsverdienstkreuz, das man ihm anheftet: «Bin ich denn ein Zivilist?» Vor allem werden markige Reden gehalten, mit Treuegelöbnissen, die DEM FÜHRER gewidmet sind.
    Der dänische Journalist Jacob Kronika 1897–1982
Berlin
    Hitlers Geburtstag!
    Diesmal ist es der letzte Führergeburtstag, sagen die Berliner.
    Vor
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