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Das Echolot Abgesang '45. Ein kollektives Tagebuch (4. Teil des Echolot-Projekts) - Kempowski, W: Echolot/Abgesang '45

Titel: Das Echolot Abgesang '45. Ein kollektives Tagebuch (4. Teil des Echolot-Projekts) - Kempowski, W: Echolot/Abgesang '45
Autoren: Walter Kempowski
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Jahren riefen sie «Heil!» Nun hassen sie den Mann, der sich ihr Führer nennt. Sie hassen ihn, sie fürchten ihn, sie erleiden seinetwegen Not und Tod. Aber sie haben weder Kraft noch Mut, sich von seiner Machtdämonie zu befreien. Verzweifelt und passiv warten sie auf den letzten Akt des Kriegsdramas.
    Unbekannte Hände haben in der vergangenen Nacht an einer Ruine am Lützowplatz ein großes, primitives Plakat angebracht. Die Inschrift prangt in Höhe des ersten Stockwerkes und lautet:
    «Das danken wir dem Führer!»
    Der Text ist bekannt. Sein Erfinder ist Dr. Goebbels. Unzählige Male wurden diese Worte schon verwendet. Allerdings waren sie nicht als Grabschrift für Deutschlands Ruinen gedacht!
    *
    Albert Speer 1905–1981
Berlin/Reichskanzlei
    Eigentlich wurde Hitlers letzter Geburtstag nicht mehr gefeiert. Wo an diesem Tag sonst zahlreiche Autos vorfuhren, die Ehrenwache präsentierte, Würdenträger des Reiches und des Auslands ihre Glückwünsche vorbrachten, herrschte Ruhe. Hitler hatte sich zwar vom Bunker in die oberen Räume begeben, die in ihrer Vernachlässigung einen passenden Rahmen zu seinem bejammernswerten Zustand gaben. Eine Abordnung der Hitlerjugend, die sich im Kampf bewährt hatte, wurde ihm im Garten vorgestellt; Hitler sprach einige Worte, tätschelte den einen oder anderen. Seine Stimme war leise. Nach kurzer Zeit brach er ab. Er hattewohl das Gefühl, nicht mehr überzeugen zu können, es sei denn, im Mitleid. Die Verlegenheit einer Gratulation wurde von den meisten dadurch umgangen, daß sie wie immer zur militärischen Lagebesprechung kamen. Niemand wußte recht, was er sagen sollte. Hitler nahm die Glückwünsche, den Umständen entsprechend, kühl und fast abwehrend entgegen.
    Kurz danach standen wir, wie schon so oft, in dem engen Bunkerraum um den Lagetisch zusammen. Hitler gegenüber hatte Göring Platz genommen. Er, der auf äußeren Schein stets großen Wert legte, hatte seine Uniformierung in den letzten Tagen bemerkenswert verändert. Der silbergraue Stoff seiner Uniform war zu unserer Überraschung durch das braungraue Tuch der amerikanischen Uniform ersetzt worden. Gleichzeitig waren seine bis dahin fünf Zentimeter breiten, goldgeflochtenen Achselstücke durch einfache Stoffachselstücke ersetzt, auf denen schlicht sein Rangabzeichen, der goldene Reichsmarschall-Adler, geheftet war. «Wie ein amerikanischer General», flüsterte mir ein Teilnehmer der Lage zu. Aber Hitler schien auch diese Änderung nicht zu bemerken.
    Während der «Lage» wurde der unmittelbar bevorstehende Angriff auf den Stadtkern von Berlin besprochen. Der Gedanke des Vorabends, die Metropole nicht zu verteidigen, sondern sich in die Alpenfestung abzusetzen, war über Nacht bei Hitler dem Entschluß zum Kampf um die Stadt, in den Straßen Berlins, gewichen. Sofort wurde Hitler bestürmt, daß es nicht nur zweckmäßig, sondern auch der letzte Augenblick sei, den Sitz des Hauptquartiers nach dem Süden, auf den Obersalzberg, zu verlegen. Göring machte darauf aufmerksam, daß nur noch eine einzige Nord-Süd-Verbindung über den Bayerischen Wald in unserm Besitz sei und daß der letzte Fluchtweg nach Berchtesgaden jederzeit unterbrochen werden könnte. Hitler ereiferte sich über die Zumutung, Berlin gerade jetzt zu verlassen: «Wie soll ich die Truppe zum entscheidenden Kampf um Berlin bewegen, wenn ich mich im gleichen Augenblick in Sicherheit bringe!»
    In seiner neuen Uniform saß Göring ihm bleich, schwitzend und mit weit geöffneten Augen gegenüber, als sich Hitler zunehmend in Erregung redete: «Ich überlasse es dem Schicksal, ob ich in der Hauptstadt sterbe oder ob ich noch im letzten Augenblick nach dem Obersalzberg fliege!»
    Kaum war die Lagebesprechung beendet, die Generale verabschiedet, als Göring sich verstört Hitler zuwandte: er habe in Süddeutschland dringendste Aufgaben zu erledigen, er müsse noch in der gleichen Nacht Berlin verlassen.
    Hitler sah ihn geistesabwesend an. Mir schien dabei, daß er in diesem Augenblick von seiner eigenen Entscheidung, in Berlin zu bleiben und sein Leben aufs Spiel zu setzen, selber ergriffen war. Mit gleichgültigen Worten gab er Göring die Hand, ließ sich nicht anmerken, daß er ihn durchschaute. Ich stand wenige Schritte von beiden entfernt und hatte das Gefühl eines historischen Augenblicks: die Führung des Reiches ging auseinander. Damit war die Geburtstagslage beendet.
    *
    Der Postbeamte
Wilhelm Bodenstedt 1894–1961
Breslau
    Die Nacht
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