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Das Echolot Abgesang '45. Ein kollektives Tagebuch (4. Teil des Echolot-Projekts) - Kempowski, W: Echolot/Abgesang '45

Titel: Das Echolot Abgesang '45. Ein kollektives Tagebuch (4. Teil des Echolot-Projekts) - Kempowski, W: Echolot/Abgesang '45
Autoren: Walter Kempowski
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1928–2000
Berlin-Kreuzberg
    Die meisten Parteigenossen saßen oder lagen auf dem Rinnstein; sie waren betrunken. Der Ortsgruppenleiter hatte alkoholische Beuteware verteilt. Er, selbst noch ein ganz junger Mann, stand dann käsebleich vor den alten Kämpfern des Führers, die sich kaum erheben konnten und teilweise bekotzte Uniformen hatten. «Kameraden, die Stunde der Bewährung hat geschlagen! Ihr werdet an der Reichskanzlei eingesetzt und unseren geliebten Führer retten.» [...] Wir setzten uns schließlich in Marsch, um über Blücherstraße zum Halleschen Tor und dann in die Wilhelmstraße zu marschieren.
    *
    Der norwegische Journalist
Theo Findahl 1891–1976
(Berlin-Dahlem)
    Als ich gegen halb ein Uhr zum Hotel Adlon hinüberkomme, schlagen die Geschosse der russischen Artillerie mit Poltern und Getöse vor dem Eingang zu den Linden ein. Im Speisesaal sind die wenigen Gäste überwältigt von der Bereitwilligkeit der Kellner, den Wein in Strömen auszuschenken, sonst heißt seit langem die Regel: ein Glas pro Kopf. Nun ja, lieber die letzten Gäste bezahlen lassen, als alles den Russen geben. [...]
    Goebbels’ Stimme ist in Berlin schon lange ziemlich ausgeschrien gewesen. Er hat nicht mehr den gleichen Griff um sein Publikum wie früher, und es herrscht der Glaube unter den ausländischen Journalisten in Berlin, daß es zu einer ernsthaften Schlacht um die deutsche Hauptstadt nicht kommen werde. Die Barrikaden, aus Pflastersteinen errichtet und mit allem möglichen Gerümpel, verrosteten Autos und Badewannen verstärkt, wirken nicht imponierend, und wir können uns nicht vorstellen, daß sie ein ernsthaftes Hindernis für Stalins große Panzerwagen sein werden. In zwei, drei Tagen wird es vorüber sein, sagen wir. Alle haben wir aus den verschiedensten Richtungen gehört, daß der Volkssturm nicht kämpfen wird, und die Kommunisten werden die Russennatürlich als Befreier begrüßen. Nur einzelne schütteln ihre klugen Köpfe und sagen, die Raserei der roten Armee werde deutsche Verzweiflung auslösen, so daß die Hitze der Schlacht selber einen Riesenbrand entfachen werde. Die Schlacht um Berlin kann sogar furchtbar werden, sagen sie, seid keine Toren, sondern flüchtet, solange es noch an der Zeit ist. Denkt daran, die rote Armee hat die beste Artillerie der Welt. Die Russen haben an die tausend Kanonen auf einen Kilometer, eine Kanone auf den Meter – Trommelfeuer. Es ist so, daß man meint, die Erde solle untergehen.
    Im Presseklub am Leipziger Platz ist die Auflösung vollständig. Die Arbeitszimmer sind ein Chaos von Papier, Glasscherben, Stühlen und Tischen, holterdipolter durcheinander, alles unter einem Geriesel von Kalkstaub. Keine Telephonwache. Keine Zensur. Alles fließt. Es sieht aus, als habe jeglicher Pressedienst von Berlin aus aufgehört. Die Servierfräuleins pressen sich jedesmal, wenn die Kanonen dröhnen, auf den Treppen aneinander. Essen ist nicht zu bekommen. Auch die Bar ist geschlossen. Die allermeisten Berichterstatter sind geflohen. Schon jetzt muß man Berlin als eine belagerte Stadt ansprechen; die Russen haben, soviel wir wissen, die wichtigsten Ausfallstore unter ihrer Kontrolle. Wie durch ein Wunder kommen die telephonischen Anrufe aus Stockholm und Kopenhagen durch, und einzelne Glückliche haben Gelegenheit, sensationelle Telegramme nach Hause zu schicken – an die Zensur kehrt sich keiner, alles ist ja in Auflösung. Hört, hört, sagen sie am Schluß, hört den Kanonendonner in Berlin! Wir hören, wir hören, sagen erregte Stimmen aus Stockholm und Kopenhagen.
    *
    Der Hauptmann
Arthur Mrongovius 1905 –1992
Tabor
    Ausgerechnet am 20. April, Führers Geburtstag, hatten wir Tabor, die heilige Stadt der Tschechen erreicht. In einem überfüllten Wartesaal hörten wir Goebbels’ Rede aus Anlaß von Hitlers Geburtstag. Es war gespenstisch, die bekannte Stimme inmitten dieser trostlosen Umgebung zu hören – sie strahlte keinerlei Zuversicht mehr aus. Es klang wie ein Abgesang, als der Redner zum Schluß die Treue zu «unserm Hitler» beschwor. Betretenes Schweigen der versammelten Menge aus Flüchtlingen, versprengten Soldaten war das Echo zu dieser Ansprache.
    Marie Wassiltschikow 1917–1978
Gmunden
    Adolfs Geburtstag. Eine lächerliche Rede von Goebbels: «Der Führer ist in uns und wir in ihm!» Wie weit will er das noch treiben? Er fügte hinzu, daß es keine Schwierigkeiten bereiten werde, alles Zerstörte wieder aufzubauen. Unterdessen rücken die Alliierten
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