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Das Echolot Abgesang '45. Ein kollektives Tagebuch (4. Teil des Echolot-Projekts) - Kempowski, W: Echolot/Abgesang '45

Titel: Das Echolot Abgesang '45. Ein kollektives Tagebuch (4. Teil des Echolot-Projekts) - Kempowski, W: Echolot/Abgesang '45
Autoren: Walter Kempowski
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dumpfige Minderwertigkeit zum Brodeln brachte.
    Ich will keinen «Übermenschen» aus ihm machen, auch nicht in der Stunde der Trauer. Eher muß ich vor mir selber Ungerechtigkeiten abwägen, die sich seit Jahren in meinen Notizen finden. Ich habe bittre Worte über ihn niedergeschrieben; sie kamen aus enttäuschtem Vertrauen, enttäuschter Hoffnung. Und ich kann sie nun teilweise zurücknehmen.
    Der Staatsmann, der Visionär, der geistige Führer Roosevelt hat dem Politiker, der sich im Ränkespiel des Alltags bewegen muß, allzuoft Konzessionen gemacht. Er hat geschwiegen, als er – nach Pearl Harbor und der Kriegserklärung durch Nazideutschland – die Möglichkeit gehabt hätte, mit den Freunden und Verteidigern von Nazismus und Faschismus in seinem Lande abzurechnen. Er hat den Krieg entarten lassen zu einer Polizeiaktion gegen Gangster, nach deren Niederringung seine Truppen sich als Gendarmen der Restauration einführten. Die Wohnviertel der Armen sind zerbombt worden, aber seine Sonderbotschafter überbrachten Komplimente in die Paläste der Könige, Marschälle und Industrieherren. Er hat mit französischen Faschisten in Casablanca Händedrücke getauscht – in Sichtweite der Konzentrationslager, in denen damals immer noch die überlebenden Antifaschisten mißhandelt wurden. Daß er mitunter nicht von den wohlfeilen Kümmerlingen der Tagespolitik zu unterscheiden war, machte mich zornig bis zur Ungerechtigkeit.
    *
    Anaïs Nin 1903 –1977
(New York)
    Frances schenkt mir einen kleinen Samthut mit schwingender Feder, der letzte Schrei. Pablo färbt die Feder um in leuchtendes Rosa. Ich trage diesen gewagten Hut, wenn wir ins Theater oder ins Ballett gehen.
    Thea Sternheim 1883–1971
(Paris)
    Welche Pracht in den Gärten! Flieder, Goldregen, Weiss- und Rotdorn blühen. Über den Mauern hängen die heliotropenen Trauben der Clematis. Welch ein Zauber den weissblühenden Blumen innewohnt. Auf der Höhe Ausblick auf die hingebreitete Stadt. Wie viele Städte sind inzwischen zum Trümmerhaufen geworden – die Engel haben Paris beschützt.
    Hans Henny Jahnn 1894 –1959
(Bornholm)
    An seine Tante Helene Steinius
    In den letzten zwei Tagen haben wir Frühlingswetter, und die Arbeit auf den Feldern geht mit aller Kraft vor sich. In dieser Woche hoffe ich, werden wir mit der Einsaat der Gerste fertig werden; dann folgen Hafer und Rüben. Inzwischen werden wohl weitere drei Füllen bei uns ankommen und hoffentlich auch einige Kälber.
    *
    Eberhard Fechner 1926–1992
Schloß Waldeck
    Am 20. April 1945 lag ich im Schloß Waldeck in der Barockbibliothek, als Gefreiter, verwundet. Wir waren vom Amerikaner gefangengenommen und dort untergebracht worden.
    Die Tür geht auf, und drei deutsche Führungsoffiziere kommen rein, grüßen und halten eine Geburtstagsfeier für den Führer. Mit deutschem Gruß! Und wir lagen da mit sechs Mann, und ich dachte, ich bin verrückt geworden. Amerikaner gestatteten deutschen Offizieren, eine Geburtstagsfeier für Hitler zu machen. Und ich lag im Bett, mit Steckschüssen im Bein und hab’ nicht opponiert, sondern hab’ den Arm gehoben und dachte, ich bin verrückt.
    Der Hauptmann
Fritz Farnbacher *1914
Bohnsack bei Danzig
    10 Uhr Offiziersversammlung des ganzen Regiments zur Feier des Führergeburtstages. Erst kurze Gedenkrede für Herbert K., dann Pathétique, vom Doktor gespielt, dann verschiedene Sprecher, ein Chor, das Kaiserquartett von Haydn, Führerehrung und schließlich Brötchen und Alkohol, der seine Wirkung nicht verfehlt; aber schließlich wird noch 20 Minuten gute Musik vom Regimentskommandeur befohlen, die ich mit 2 Bachchorälen abschließen muß.
    Günter Cords *1928
Antiesenhofen/Österreich
    Führers Geburtstag. Auf dem Dorfplatz traten wir, durch dickbäuchige Linden gegen Fliegersicht gedeckt, zur Feier an. Von unseren Märschen angelockt, standen anderthalb Dutzend Kinder um uns herum, während ihre Eltern feige durch die Gardinen schauten. Kurz vor Schluß der Ansprache verschwanden selbst die Gören. Dafür erschienen Jabos und beendeten die Feier, bevor wir das Deutschlandlied blasen konnten.
    Der Volkssturmmann
Fritz Steffen 1893–1979
Stettin
    Am 20.4.45, 19 Uhr müssen wir zur «Feier des Geburtstages des Führers» im Kasino des Landeshauses erscheinen. Ein Kreisleiter redet über den Endsieg! Die spendierte Flasche Rotwein und die kleine Portion Schinken und Wurst mit Brot haben uns nicht vom Sieg überzeugen können.
    Dieter Borkowski
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