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Das Echo der Traeume

Das Echo der Traeume

Titel: Das Echo der Traeume
Autoren: Maria Duenas
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und wieder einen Sonnenstrahl, der es über die vier hohen, auf die Straße gehenden Balkone bis ins Erdgeschoss geschafft hatte. Der Rest der Truppe blieb stets im Hintergrund: in jenem im Winter eiskalten und im Sommer brütend heißen Winkel, der unsere Schneiderei war, jenem grauen Hinterzimmer, dessen zwei winzige Fenster auf einen dunklen Innenhof hinausgingen und in dem die Stunden zwischen geträllerten Liedern und Scherengeklapper wie im Flug vergingen.
    Ich lernte rasch. Meine flinken Finger gewöhnten sich schnell an die Nadel und die Textur der Stoffe. An die Maße, die einzelnen Teile und die verschiedenen Größen. Vordere Rumpflänge, Brustumfang, Beinlänge. Ärmelausschnitt, Ärmelloch, Besatzstreifen. Mit sechzehn lernte ich die verschiedenen Stoffe zu unterscheiden, ihre Qualität zu beurteilen und ihr Potenzial zu erkennen. Crêpe de Chine, Seidenmusselin, Georgette, Chantilly-Spitze. Die Zeit verging wie im Flug: Im Herbst fertigten wir Mäntel aus guten Stoffen und Kostüme für die Übergangszeit, im Frühling nähten wir luftige Kleider, die für die Ferien an der weit entfernten, unerreichbaren kantabrischen Küste bestimmt waren, für San Sebastián und seine berühmte Bucht La Concha oder für Santander und seinen Strand El Sardinero. Ich wurde achtzehn, neunzehn. Nach und nach arbeitete ich mich in den Zuschnitt und die Fertigung schwierigerer Teile ein. Ich lernte, wie man Krägen und Revers machte, lernte zu erahnen, wie ein Stoff fallen und das fertige Stück aussehen würde. Meine Arbeit gefiel mir, sie machte mir Spaß. Doña Manuela und meine Mutter baten mich gelegentlich um meine Meinung, begannen mir zu vertrauen. » Das Mädchen hat ein Händchen fürs Nähen und den richtigen Blick, Dolores«, sagte Doña Manuela. » Sie macht ihre Sache gut, und sie wird noch besser, wenn sie uns nicht abspringt. Besser als du, nachlässig wie du bist.« Und meine Mutter arbeitete einfach weiter, als hätte sie nichts gehört. Und auch ich hob nicht den Kopf von meinem Brett, tat so, als wäre nichts gewesen. Doch als ich verstohlen zu ihr hinübersah, bemerkte ich, dass ihre Lippen, zwischen denen Stecknadeln klemmten, ein leichtes Lächeln umspielte.
    Es verstrichen die Jahre, es verstrich das Leben. Die Mode änderte sich, und ihrem Diktat gehorchte die Arbeit in der Schneiderei. Mit dem Ende des Ersten Weltkriegs kamen gerade Linien auf, die Korsetts wurden ausgemustert, und man zeigte nun Bein, ohne zu erröten. Als sich jedoch die Goldenen Zwanziger ihrem Ende zuneigten, wanderte die Taille wieder an ihren naturgegebenen Platz, die Röcke wurden länger, man zeigte nicht mehr Dekolleté und nackte Arme, der Ruf nach Sittsamkeit triumphierte. Ein neues Jahrzehnt begann, und es brachte viele Veränderungen. Schlag auf Schlag, unvorhersehbar, fast alle auf einmal. Ich wurde zwanzig, man rief die Republik aus, und ich lernte Ignacio kennen. Wir begegneten uns an einem Sonntag im September im Parque de la Bombilla bei einem Tanzvergnügen mit Lehrmädchen, bummeligen Studenten und Soldaten, die Ausgang hatten. Er forderte mich zum Tanzen auf, brachte mich zum Lachen. Zwei Wochen später schmiedeten wir schon die ersten Heiratspläne.
    Wer war Ignacio, was bedeutete er mir? Damals dachte ich, er sei der Mann meines Lebens. In seiner ruhigen Art erkannte ich instinktiv den guten Vater meiner zukünftigen Kinder. Inzwischen hatte ich ein Alter erreicht, in dem jungen Frauen wie mir ohne ordentlichen Beruf außer der Ehe nicht viele Möglichkeiten blieben. Das Beispiel meiner Mutter, die mich alleine großzog und dafür von frühmorgens bis spätabends hart arbeitete, erschien mir nicht erstrebenswert. Und mit Ignacio hatte ich einen geeigneten Kandidaten gefunden, um nicht in ihre Fußstapfen treten zu müssen: jemanden, mit dem ich den Rest meines Lebens verbringen konnte, ohne jeden Morgen mit dem schalen Geschmack von Einsamkeit im Mund aufzuwachen. Mich zog keine glühende Leidenschaft zu ihm hin, doch sehr wohl eine starke Zuneigung und die Gewissheit, dass meine Tage an seiner Seite ohne Kummer oder große Turbulenzen, wie auf ein weiches Kissen gebettet, verstreichen würden.
    Ignacio Montes, dachte ich, würde derjenige sein, an dessen Arm ich mich bei unseren zahllosen Spaziergängen festhielte, seine stete Gegenwart würde mir für alle Zeit Schutz und Sicherheit bieten. Zwei Jahre älter als ich, schlank, liebenswürdig, ebenso umgänglich wie sanftmütig. Er hatte die richtige Statur
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