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Das Echo der Flüsterer

Titel: Das Echo der Flüsterer
Autoren: Ralf Isau
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auf das Taxi. Großmutter sah nicht mehr so gut. Wer da im Auto saß, musste für sie kaum zu erkennen sein. Ihr Gesicht war gezeichnet von der Sorge um den seit Wochen vermissten Enkel.
    Dann öffnete Robert die Wagentür und stieg aus. Rose rührte sich nicht. Sie stand einfach nur da, unbeweglich, blickte völlig starr. Schließlich begann ihre Unterlippe zu zittern und eine brüchige Stimme formte ein einziges Wort: »Bob?«
    »Ja, ich bin es, Mutter. Wir sind wieder da.«
    Robert lief zu ihr hin. Auch Sarah und Jonas waren nun ausgestiegen und folgten ihm. Von der plötzlichen Hektik angelockt trat der General auf den Plan. Das Fliegengitter der Verandatür flog knallend auf und der stattliche alte Mann brüllte Roberts Namen. Dann sah er auch Sarah und Jonas.
    Jonas konnte nicht sagen, ob er seinen Großvater je vorher einmal hatte weinen sehen. An diesem Novembertag jedenfalls ließen sich die Tränen nicht verbergen. Die fünf Menschen umarmten einander auf der Veranda. Sie ließen den Tränen freien Lauf. Sie wiederholten unaufhörlich ihre Namen. Sie sagten lauter sinnlose Dinge und niemand störte sich daran.
     
     
    Der November konnte auch in den Everglades ein unberechenbarer Monat sein. Mal regnete es, mal schien die Sonne. Richtig kalt wurde es hier nur selten, aber dieser Sonntag war wirklich etwas Besonderes.
    Jonas wanderte allein durch den Sumpf. Er hatte ein bestimmtes Ziel. Während er mit langen Schritten durch die verzauberte Landschaft der Everglades marschierte, musste er an die vergangenen Tage denken.
    Vor knapp zwei Wochen war überraschend Mat Barwinkle, der »sprechende Kaktus«, auf Großvaters Alligatorenfarm aufgetaucht. Als der bärtige Alte seinen ehemaligen Mitfahrer Jonas wieder sah, lächelte er geheimnisvoll, so als wollte er sagen: »Siehste, hab ich doch gleich gesagt, dass wir uns bald wieder sehen.« Dabei beließ er es aber auch schon. Es wurde ein sehr lebendiger Abend, an dem der General und sein alter Weggefährte alte Erinnerungen auffrischten und Jonas Geschichten zu hören bekam, wie sie alte Seebären nicht haarsträubender hätten erfinden können.
    Erst am zurückliegenden Dienstag, es war der 20. November gewesen, hatte Präsident Kennedy während einer Pressekonferenz eine Kuba-Erklärung abgegeben. »Die uns bis heute vorliegenden Beweise lassen erkennen, dass alle bekannten offensiven Raketenbasen auf Kuba abgebaut worden sind«, hieß es darin. Jonas schlug mit einem Stock spielerisch einen im Wege hängenden Zweig zur Seite und lächelte. Lischka, Ximon, Quitu und all die anderen Flüsterer waren fleißig gewesen. Die Situation auf der Insel des Moskitos schien sich wirklich entspannt zu haben.
    Irgendwie fühlte er sich wie ein neuer Mensch. Er hatte nur einen knappen Monat in der Welt Azon verbracht, aber in dieser Zeit war er ein anderer Jonas geworden. Schon früher hatte er sich immer gegen die Mitläufer gesträubt, die ohne viel nachzudenken das taten, was alle machten. Bequemlichkeit und Selbstüberschätzung konnten eine sehr gefährliche Mischung ergeben, das hatte er gelernt. Auf Azon hatte er begriffen, dass man ein Problem von vielen Seiten her betrachten musste, um sich ein ausgeglichenes Urteil bilden zu können. Das wollte er nun auch in Zukunft tun. Jonas hatte es sich ganz fest vorgenommen.
    Sein Großvater konnte ihm zunächst die Geschichte vom Echo der Flüsterer nur mit Mühe abnehmen. Aber zuletzt hatte er versöhnlich gelacht und bemerkt: »Hauptsache, du bist wieder da. Irgendwie erinnert mich das alles an den Jonas aus der Bibel. Er befand sich drei Tage im Herzen des Meeres, im Bauch eines großen Fisches. Dann wurde er wieder ausgespuckt und war ein völlig anderer Mensch.« Dieser Vergleich gefiel Jonas. Er klang so ganz anders als das, was Kanthelm einmal zu ihm gesagt hatte.
    Inzwischen hatte er sein Ziel erreicht. Schnell kletterte er auf den blauen Himmelsstein, der am Rand des smaragdgrünen Teiches aufragte, in dem sich die Alligatoren so gerne aufhielten. Von Old Big Shadow war an diesem Sonntag nichts zu sehen, aber sechs oder sieben andere Panzerechsen rekelten sich in der warmen Sonne.
    Jonas’ Gedanken kamen ins Treiben. Er musste daran denken, wie Kennedy und sein Exekutivkomitee im Fernsehen gelobt worden waren. Einige Journalisten hatten sich sogar dazu aufgeschwungen, ihr Handeln als Paradebeispiel für besonnenes Krisenmanagement herauszustellen. Jonas lächelte still vor sich hin. Er wusste wirklich, was in
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