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Das Echo der Flüsterer

Titel: Das Echo der Flüsterer
Autoren: Ralf Isau
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ihres Bewusstseins zu, dorthin, wo eine grausame Erkenntnis lag: Sie war an allem schuld. Und sie konnte nichts mehr tun, um es ungeschehen zu machen. Von Anfang an hatte sie gewusst, dass die Reise ein Fehler war. Während die Sonne von St. George auf sie niederbrannte, stellte sie sich immer wieder die gleiche Frage: Was hatte sie hier nur verloren, mitten im Nordatlantik, in der sengenden Hitze eines Flugplatzes der amerikanischen Navy? Mit den Augen verfolgte sie eine Transportmaschine, die ganz in der Nähe vom Boden abhob. Das Donnern der Motoren war ohrenbetäubend. Die Luft flimmerte über dem heißen Rollfeld und verwandelte das Propellerflugzeug in eine flirrende Fata Morgana.
    Sarah wartete im Schatten einer bulligen B-24, die ihre silbernen Flügel über sie ausbreitete wie eine Glucke über dem Küken. Sie machte sich Vorwürfe, führte eine stille Selbstanklage, der sie sich nicht entziehen konnte. Nein, sie hatte sich als Rabenmutter erwiesen, hatte ihren Sohn im Stich gelassen. Wäre es denn wirklich so schlimm gewesen, ein paar Tage lang von ihrem Ehemann getrennt zu sein? Robert hätte diese Reise ganz gut auch ohne sie unternehmen können. Alles wäre anders gekommen. Alles!
    Sie biss sich auf die Unterlippe, um die Tränen zurückzuhalten. Eigentlich hatte sie es sogar verdient, sich so elend zu fühlen. Und dennoch – tief in ihrem Innern sträubte sich etwas, die schreckliche Nachricht zu akzeptieren. Eine tröstende Stimme flüsterte ihr zu, sie müsse nur endlich diesen Ort verlassen und nach Hause zurückkehren, dann werde alles wieder gut werden…
    Sarah schüttelte stumm den Kopf. Auch wenn ihr Herz ihr etwas anderes sagte, musste sie sich wohl der unvermeidlichen Wahrheit stellen: Jonas war tot; ihr gerade elf Monate alter Sohn lebte nicht mehr.
    Sie konnte nicht sagen, wie viele Minuten verstrichen waren, als der Pilot wieder aus der großen Luke kletterte, die sich seitlich am Rumpf der Transportmaschine befand. Der große, kantige Mann nickte ihr unbeholfen zu.
    »Besser so, dass Sie hier draußen warten, Mrs. McKenelley. Da drinnen ist es heiß wie in einem Backofen.«
    Sarah erwiderte das Nicken. Zu mehr war sie nicht imstande.
    »Ihr Mann wird bestimmt gleich zurück sein. In etwa fünfzehn Minuten starten wir.«
    Der Captain gab sich alle Mühe beruhigend zu klingen, doch Sarah hörte ihn nicht mehr. Ihre Gedanken wanderten zurück in die Vergangenheit, zu den Tagen, da sie die Bedeutung des Wortes »Furcht« nicht gekannt hatte.
    Ihr ganzes Leben lang hatte sie sich nach Geborgenheit gesehnt. Sie konnte sich nur noch undeutlich an die Zeit erinnern, als ihre Eltern mit ihr und den beiden jüngeren Brüdern gespielt, mit ihnen unbekümmert gelacht oder sie, wenn nötig, verständnisvoll getröstet hatten. Diese Vergangenheit erschien ihr wie ein langer warmer Sommer, den man selbst Jahre später noch mit angenehmen Gefühlen verbindet, obwohl man die Einzelheiten längst vergessen hat.
    Die Jahre danach waren ein Alptraum gewesen. Sie hatten Sarah schwere Wunden zugefügt, ihr Vertrauen zutiefst erschüttert. Sie fühlte sich von den Eltern im Stich gelassen. Natürlich wusste sie, wie ungerecht dieser Vorwurf war. Aber der Verstand ist ein sehr unzulänglicher Advokat, wenn die eigenen Gefühle die Anklage führen. Warum nur hatten ihre Erfahrungen sie nicht davor bewahrt, gerade in diesem Punkt zu versagen? Weshalb hatte sie Jonas allein gelassen?
    Sarah zwang ihre Gedanken in eine andere Bahn. Sie blickte zur Sonne hinauf, musste ihre Augen aber gleich wieder mit der Hand beschirmen. Für einen Moment huschte sogar ein Lächeln über ihre Lippen.
    Damals, kurz nach Kriegsende, war Robert McKenelley am dunklen Horizont ihres Lebens fast ebenso glanzvoll aufgestiegen wie an diesem Morgen die Sonne über den Bermudainseln. Robert war Nachrichtenoffizier bei der US-Army gewesen. Was ihn für Sarah so anziehend machte, war jedoch etwas anderes: Er gab ihr Geborgenheit wie niemand sonst. An Roberts Seite hatte sie ein zweites Mal gelernt, was es bedeutete, einem anderen Menschen zu vertrauen. Selbst das Lachen hatte er ihr wieder beigebracht. Wenn er nur schmunzelte, konnte sie unmöglich ernst bleiben.
    Anfang Juli 1945 hatte die Trauung stattgefunden. Aus Frau Sarah Goldschmidt war Mrs. Sarah McKenelley geworden.
    Kaum verheiratet, wurde Robert nach Berlin abkommandiert. Er sollte über die Potsdamer Konferenz berichten, die für den 17. Juli anberaumt war. Als ein besonderes
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