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Das Echo der Flüsterer

Titel: Das Echo der Flüsterer
Autoren: Ralf Isau
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den äußeren Regionen des Wirbels durchzuckten immer wieder Blitze das Wasser, flackernd wie sommerliches Wetterleuchten. Aber in seinem Zentrum pulsierte langsam und stetig ein blaues Licht.
    »Was ist das?«, hauchte Robert.
    »Es ist der Weg, den wir gehen müssen«, antwortete Sarah ungewöhnlich ruhig.
    Robert bemerkte voller Bestürzung ihre beinahe euphorisch leuchtenden Augen. Was war nur in sie gefahren? Natürlich, Sarah hatte von ihren Selbstvorwürfen gesprochen, davon, dass sie eine schlechte Mutter sei, weil sie ihren Sohn im Stich gelassen habe… Aber dass sie sich nach dem Tod sehnte?
    Ein leichter Ruck ging durchs Flugzeug und lenkte Roberts Aufmerksamkeit zurück zum Kabinenfenster. Was er dort sah, schien ihm für einen Augenblick alle Kraft zu rauben. Das äußere Backbordtriebwerk war ausgefallen, der Propeller wurde immer langsamer und blieb schließlich ganz stehen. Gleich darauf versagte auch der zweite seinen Dienst. Robert raffte sich noch einmal auf und eilte zur Steuerbordseite hinüber. Auch da standen alle Motoren still. Kein Rauch war zu sehen, nicht einmal eine leichte Bewegung der Propeller im Flugwind, sie standen einfach still.
    Eine furchtbare Erkenntnis senkte sich langsam auf ihn herab: Eine mehr als dreißigtausend Pfund schwere Maschine wie die B-24, ohne ein einziges funktionierendes Triebwerk, konnte in etwa so gut segeln wie eine Tontaube. Die Roly-Poly musste zwangsläufig den Gesetzen der Schwerkraft folgen und in einem weiten Bogen auf dem Meer niedergehen. Er blickte zu Sarah hinüber, die jetzt mit gerecktem Hals aus dem Fenster schaute, fast wie ein neugieriges kleines Mädchen, als könne sie sich nicht satt sehen an dem so bodenlos anmutenden Loch mit dem pulsierenden Licht darin.
    Robert wurde mit einem Mal sehr ruhig. Er hatte nur noch einen Wunsch: Wenn sein Herz aufhörte zu schlagen, wollte er bei seiner Frau sein, wollte ihr die Geborgenheit geben, nach der sie sich immer so gesehnt hatte.
    Er kreuzte erneut den Mittelgang. Für einen Augenblick fiel sein Blick dabei auf das Cockpit: Die Besatzung, die im letzten Krieg so viele kritische Situationen durchgestanden hatte, kämpfte noch immer um die Kontrolle über das Flugzeug, hoch konzentriert, die Nerven bis aufs Äußerste angespannt, aber dennoch ohne jede Hektik handelnd. Die Piloten betätigten Hebel und Schieber, zerrten am Höhenruder. Der Funker versuchte ununterbrochen die Basis zu erreichen. Doch keinem der Männer schien ein Erfolg beschieden zu sein.
    Dann war er wieder bei Sarah und drückte sie eng an sich. Als sie sich seiner Nähe bewusst wurde, drehte sie den Kopf und lächelte ihn an. Nein, nicht ein Funken Furcht lag in ihrem Gesicht, nur ruhige Erwartung.
    »Alle Triebwerke sind ausgefallen. Es wird nicht mehr lange dauern und das Flugzeug zerschellt auf dem Wasser.« Auch Roberts Stimme klang jetzt ruhig. Aber bei ihm war es mehr das Akzeptieren des Unabwendbaren als jene sonderbare Apathie, die anscheinend von Sarah Besitz ergriffen hatte. Sein Herz verkrampfte sich. Erst die Nachricht von Jonas’ Tod und nun…
    »Warum stürzt sie nicht ab?«
    Die Stimme aus dem Cockpit drang wie durch einen dichten Schleier in Roberts Bewusstsein vor. Benommen zwang er sich wieder aus dem Fenster zu sehen. Tatsächlich! Die Roly-Poly war schneller geworden. Sie flog jetzt immer engere Kreise. Aber sie flog!
    Das gewaltige Loch im Zentrum des Strudels füllte jetzt fast vollständig das kleine Kabinenfenster aus. Robert konnte nun geradewegs in den bodenlosen Schlund hinabblicken, weil das Flugzeug sich inzwischen doch stark zum Mittelpunkt des Mahlstroms hin neigte. Was er dort sah, war einfach unglaublich. Es erfüllte ihn gleichermaßen mit Entsetzen wie mit Erstaunen.
    Nun, da man in das Herz des Strudels blicken konnte, gab er mehr von seiner Natur preis. Tief unten konnte man ein lebendiges Glitzern erkennen, in unzähligen Schattierungen von Blau. Das Leuchten wirkte auf eine schwer zu beschreibende Weise beseelt, aber im Gegensatz zum Glühen eines Vulkans ging keine Bedrohung von ihm aus; in dem blauen Licht lag auch keine tödliche Kälte wie in dem eisigen Schimmer eines Gletschers.
    Vielmehr schien es Robert – und so ging es in diesem Augenblick jedem Einzelnen an Bord der Roly-Poly –, als würde ein Ruf von diesem Leuchten ausgehen, oder ein lockendes Flüstern, das ihm alle Angst nahm. Sarah musste es früher als die anderen gespürt haben, wohl weil sie in mancherlei Hinsicht
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