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Das Echo der Flüsterer

Titel: Das Echo der Flüsterer
Autoren: Ralf Isau
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McKenelley, sein Großvater, betrieb die eigene Alligatorenfarm ja nicht, um die Haut der Echsen an Handtaschen- und Cowboystiefelhersteller zu verscherbeln. Er hatte sich dem Schutz dieser bedrohten und in freier Wildbahn nur noch selten vorkommenden Tiere verschrieben. Bei einigen in der Gegend war Tom deshalb nicht sehr beliebt. Wenn die Wilddiebe dem Enkel dieses »Alligatorenfreundes« hier begegneten, mussten sie damit rechnen, angezeigt zu werden. Sollte dieser Zeuge aber spurlos in den Sümpfen verschwinden, dann…
    Das Vernünftigste in einer solchen Situation wäre es nun zweifellos gewesen, sich in die Schatten zu verdrücken und die Wilddiebe ihre blutige Arbeit erledigen zu lassen. So hätte wahrscheinlich die Mehrzahl seiner Altersgenossen gehandelt. Aber Jonas tat selten, was die Mehrheit für vernünftig hielt.
    Schnell ließ er seinen Rucksack zu Boden gleiten, zog Schuhe, Hemd und Hose aus und versteckte alles unter den vielfingrigen Blättern der großen Farne, die an dieser Stelle üppig wucherten. Dann schlich er auf die Jäger zu. Die knickten immer noch Schilfrohre ab und spritzten Wasser auf, als wollten sie – vielleicht um Munition zu sparen? – ihre Beute zu Tode erschrecken.
    Jonas verließ nun den festen und sicheren Pfad am Rande des Sumpfgraslandes. Schon nach wenigen Schritten wurde der Grund unsicher. Er watete über federnden, nassen Boden. Der Lärm aus der Richtung der Wilddiebe überdeckte die schmatzenden Geräusche, die er jedes Mal verursachte, wenn er wieder einen Fuß dem feuchten Griff der Erde entzog. Dann erreichte er das Wasser. Ohne zu zögern stieg er hinein, direkt zu den stillen Herren der Everglades: den Alligatoren.
    Bald ging ihm das Wasser bis zur Hüfte. Das Ufer des Tümpels war größtenteils mit Schilf bewachsen, sodass er ausreichend Deckung fand. Jonas kannte diese Stelle nur zu genau. Vor vier Jahren hatte er hier einige dramatische Augenblicke erlebt; danach war sein Leben nicht mehr gewesen wie zuvor. Doch das lag lange zurück. Jetzt musste er sich auf seine Umgebung konzentrieren, völlig mit ihr verschmelzen, wollte er nicht entdeckt werden. Es gab viele wachsame Augen in diesem Teich.
    Er bewegte sich langsam und in geduckter Haltung vorwärts, nur sein Kopf ragte noch aus dem Wasser. Das Gesicht hatte er sich mit Schlamm eingeschmiert. So war er praktisch unsichtbar. Diese »Kriegsbemalung« galt den Wilddieben, sie durften ihn auf keinen Fall entdecken. Sein vorsichtiges Vorgehen hatte dagegen eine andere Ursache: Die Hausherren dieses flachen Tümpels waren leicht zu erschrecken und Jonas wollte alles vermeiden, was ihren Unmut heraufbeschwören konnte.
    Am Ufer hatte er nach einem abgebrochenen, stabil wirkenden Schilfrohr gegriffen. Es war ungefähr fünf Fuß lang und sollte ihm helfen neugierige Alligatoren auf Distanz zu halten. Vorsichtig arbeitete er sich zu den Wilddieben vor, ständig nach Deckung suchend. Sie hatten einen starken, batteriegespeisten Scheinwerfer mitgebracht, mit dem sie das Wasser ableuchteten. Jonas glaubte in dem andauernden Grölen und Fluchen die Stimmen dreier Männer auszumachen. Anscheinend hatten sie sich vorher Mut angetrunken, denn der Lärm, den sie veranstalteten, passte so gar nicht zu professionellen Jägern.
    »He, weck mir nicht Old Big Shadow auf, Bill! Sonst verspeist er dich zum Frühstück«, rief gerade einer und dekorierte seinen Scherz mit einem hustenden Lachen.
    »Halt lieber dein Maul, Walt, und erspar mir deine Monstergeschichten. Wenn du weiter so einen Radau machst, kriegen wir nie eins von den Biestern vor den Lauf«, antwortete eine andere Stimme.
    Jonas fiel auf, dass der zweite Sprecher deutlich weniger selbstsicher klang. Ein Lächeln huschte über sein mit Schlamm bedecktes Gesicht. Die meisten Bewohner Muddy Creeks sprachen den Namen Old Big Shadows immer nur mit einem seltsamen Unterton in der Stimme aus: furchtsam, ahnungsvoll oder auch beschwörend und drohend, gerade so, als redeten sie von einem Geist oder einem anderen dunklen Wesen, das herbeizurufen man tunlichst vermeiden sollte. Angeblich hatte im vorigen Jahrhundert ein Indianer den riesenhaften Alligator zum ersten Mal gesehen. Wie er verstört berichtete, hatte die Echse seinen Stammesbruder gepackt, ihn ins Wasser gezogen und dann in einem Stück hinuntergeschlungen.
    Jonas glaubte nicht recht an dieses Schauermärchen. Nicht etwa, weil die Geschichte schon so lange zurücklag. Er hatte von einem mehr als
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