Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Das Echo der Flüsterer

Titel: Das Echo der Flüsterer
Autoren: Ralf Isau
Vom Netzwerk:
sechzigjährigen Mississippi-Alligator gehört, der noch immer in Gefangenschaft lebte. Manche behaupteten sogar, diese Reptilien könnten achtzig oder gar neunzig Jahre alt werden. Auch die Art, wie Old Big Shadow den Indianer »erbeutet« hatte, entsprach in etwa dem Verhalten, das Jonas schon oft beobachten konnte: Die großen Echsen fraßen nur im (allerdings nie unter) Wasser. Aber einen ausgewachsenen Mann in einem Stück zu verschlucken – dieses Detail war wohl der ausschmückenden Überlieferung zuzuschreiben. Die Zähne von Krokodilen und Alligatoren sind zum Kauen ungeeignet, deshalb zerreißen die Tiere ihre Beute, nachdem sie ihr mit ruckhaften Bewegungen des Kopfes das Genick gebrochen oder sie unter Wasser erstickt haben.
    Doch die kleinen Ungenauigkeiten waren nicht die Hauptursache für Jonas’ Zweifel an der Legende von dem angeblich vierzig Fuß langen Riesenalligator. Sein Wissen über die große dunkle Echse stammte aus einer anderen Quelle. Er kannte Old Big Shadow persönlich.
    In diesem Moment nahm Jonas zu seiner Linken eine Bewegung wahr. Er warf den Kopf herum und seine Nackenmuskeln verhärteten sich. Deutlich sah er einen dunklen Schatten durchs Wasser gleiten: ein Alligator! Die Echse war fünfzehn, vielleicht auch siebzehn Fuß lang – kein »Geisteralligator« also, aber noch immer eines der größeren Exemplare. Das Reptil kam direkt auf ihn zu.
    Alligatoren haben eine deutliche Körpersprache, die einem viel über ihre augenblickliche Stimmung verraten kann – sofern man diese Sprache versteht. Jonas konnte an der Art, wie die Echse ihren Körper bewegte, und daran, wie weit sie ihn aus dem Wasser hob, erkennen, dass diese Annäherung nicht unbedingt feindlicher Natur war. Trotzdem erschien es ihm klüger, den wahrscheinlich nur neugierigen Sumpfbewohner nicht allzu nahe herankommen zu lassen. Vorsichtig setzte er daher sein Schilfrohr ein, um das schwere Tier auf Abstand zu halten. Er drängte es sogar noch in eine andere Richtung, weg von den Jägern im Flachboot.
    Der Alligator schien denn auch das Interesse an dem zweibeinigen Gast in seinem Teich verloren zu haben und glitt lautlos davon. Jonas atmete erleichtert auf. Er hatte nicht wirklich Angst verspürt, aber jede Begegnung mit den großen Panzerechsen erforderte seine ganze Konzentration. Ihre »Sprache« musste man vor allem optisch erfassen; er musste sich also jedes Mal völlig umstellen, damit er sie begriff und – was noch viel wichtiger war – sich selbst verständlich machen konnte. Im Notfall hätte er sich abrupt zu seiner vollen Größe aufrichten und der Echse Wasser in die Augen spritzen können – beides hätte sie gehörig erschreckt und ziemlich sicher vertrieben. Aber dann wäre er mit Gewissheit von den Wilddieben entdeckt worden.
    Jonas sah sich zu den Männern um. Sie hatten von der lautlosen »Unterhaltung« nichts mitbekommen. Er konnte mit seinem Plan also weitermachen. Kein Alligator oder sonst ein Sumpfbewohner sollte sein Leben lassen, nur weil diesen betrunkenen Großmäulern gerade der Sinn danach stand, mit ihren Flinten durch die Gegend zu ballern. Jonas schlich sich näher an das Boot heran. Der Kegel des Scheinwerfers huschte über das dunkle Wasser.
    »Hat sich da nicht eben was bewegt?«, lallte eine Stimme, die bisher kaum zu hören gewesen war (der dritte Wilddieb schien sich besonders viel Mut eingeflößt zu haben).
    »Man könnte es vielleicht feststellen, wenn ihr nicht solchen Radau machen würdet«, antwortete derjenige, der wohl noch am klarsten war.
    Jonas konnte die Männer im Boot jetzt ganz deutlich erkennen. Sein Plan war eigentlich genauso simpel wie verrückt, aber angesichts des benebelten Zustands der Wilddiebe konnte er funktionieren. Er hatte sich unterwegs ein großes Blatt abgerissen, das er nun auf seinen Handteller legte und dicht vor den Mund hob. Gerade als er Luft holen wollte, sah er aus den Augenwinkeln einen neuen Schatten.
    Die dunkle Gestalt hätte leicht als dahintreibender Baumstamm durchgehen können, sie war unwahrscheinlich breit und mindestens fünfundzwanzig Fuß lang. Doch bei dem, was oben aus dem Wasser ragte, handelte es sich nicht um knorrige Rinde, sondern um kräftige Hornplatten. Jonas erkannte den riesigen Alligator sofort wieder, obwohl ihr letztes Zusammentreffen nun schon vier Jahre zurücklag. Und was das Sonderbare war, das gewaltige Reptil schien sich auch an ihn zu erinnern. Später konnte Jonas nie erklären, woher er in jenem
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher