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Das Echo der Flüsterer

Titel: Das Echo der Flüsterer
Autoren: Ralf Isau
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ersten Mal geschworen hatte irgendwann aufzubrechen und die Wahrheit herauszufinden. Doch das Flüstern machte seinem Zaudern ein Ende.
    Jonas glaubte nicht wirklich, er höre Stimmen, schon gar nicht diejenigen seiner Eltern. Little Weasel, ein alter Mikasuki-Indianer, der Großvater auf der Alligatorenfarm half, hatte ihm früher des Öfteren Schauergeschichten von den rastlosen Seelen jener erzählt, die im Laufe der Jahrhunderte in den Sümpfen ums Leben gekommen waren. Angeblich machten sie sich einen Spaß daraus, den Lebenden nächtliche Besuche abzustatten und sie durch ihr Flüstern aus der Fassung zu bringen.
    Der Indianer verstand es wie kein Zweiter, Jonas in einen ehrfürchtig lauschenden Zuhörer zu verwandeln, was aber nicht heißen soll, dass der ihm auch alles glaubte. Tom McKenelley hielt nämlich wenig von allzu lebendigen Toten und Jonas hatte dessen diesbezügliche Skepsis geerbt. Nach Ansicht der Priester schmorten die Verstorbenen entweder in der Hölle oder sie vergnügten sich im Paradies, hatte Großvater ihm einmal erklärt. Er dagegen glaube lieber, was er selbst in der Heiligen Schrift gelesen habe. Im Buche Kohelet stünde: Die Toten erkennen überhaupt nichts mehr. Die Erinnerung an sie sei in der Vergessenheit versunken. »Das ist mir allemal lieber als ein Haufen unterbeschäftigter Gespenster, die nichts Besseres zu tun haben, als unsereinem im Weg zu stehen.«
    Großvater konnte selbst komplizierte Sachverhalte einfach und zudem recht plastisch darstellen. Sein Wort wog für Jonas schwerer als das irgendeines anderen Menschen (vielleicht Großmutter Rose ausgenommen). Die Schlüsse, die Toms Enkel aus der Geisterlektion zog, waren allerdings weit reichend: Jonas wusste, dass er seine Eltern suchen musste. Er zweifelte nicht im Geringsten daran. Sie lebten! Wenn jede Erinnerung an die Toten vergangen war, dann mussten sie einfach leben – denn er erinnerte sich an sie.
    Großmutter Rose war ein sehr geduldiger Mensch. Wie oft hatte sie auf ihn eingeredet! »Sieh, mein Herz, dieses Empfinden ist nicht ungewöhnlich. Aber es kann doch nicht gut auf wirklichen Erfahrungen beruhen, oder? Viele Menschen glauben sich an Ereignisse zu erinnern, wenn man sie ihnen nur oft genug vorher geschildert hat. Tom und ich haben dir so viel von deinen verschollenen Eltern erzählt, dass es nur zu natürlich ist, wenn du dich an sie zu entsinnen glaubst. Du meinst doch nicht wirklich noch zu wissen, was du als elf Monate altes Kind erlebt hast?«
    Mit dieser Frage pflegte Großmutter Rose ihre Erklärungen für gewöhnlich abzuschließen. Sie lächelte dann immer warmherzig und erwartete, dass Jonas »Nein« sagte. Er hatte nie auf diese Weise geantwortet. Meistens – nur, um Großmutter nicht zu verletzen – hatte er zurückgelächelt und das Thema gewechselt; manchmal war er auch einfach in die Sümpfe gelaufen und hatte geweint.
    Die Erinnerung an sie ist in der Vergessenheit versunken. Er hatte seine Eltern nicht vergessen. Sie waren in ihm. Also lebten sie. Daran glaubte Jonas solange er zurückdenken konnte. Auch wenn alle anderen in Muddy Creek etwas anderes für die Wahrheit hielten.
    »Robert und Sarah sind mit dem Flugzeug abgestürzt. Verschollen im Bermudadreieck.« Großvaters Gesicht war von tiefem Schmerz gezeichnet, als er die Geschichte zum ersten Mal erzählte. Auch daran konnte Jonas sich noch gut entsinnen. Für ihn hatte der letzte Satz des alten McKenelley wie der Titel eines Sciencefictionromans geklungen.
    Das Bermudadreieck war kein Fremdwort für ihn, den »Bücherfresser«, wie Großmutter Rose ihn gerne zu nennen pflegte. Was er nicht wusste und auch anderen Leuten durch Fragen nicht entlocken konnte, das holte er sich aus Büchern heraus. Er verschlang sie regelrecht, die Werke über Tiere, Pflanzen, die Everglades, die Sterne, den Wind, das Meer – und das Bermudadreieck.
    Dieses riesige Meeresgebiet, dessen nördlichsten Punkt die Bermudainseln bildeten, war schon seit Mitte des neunzehnten Jahrhunderts immer wieder Gegenstand mysteriöser Geschichten gewesen. Angeblich waren dort mehr als fünfzig Schiffe und über zwanzig Flugzeuge verschwunden. Im Jahr 1945 hatten fünf Militärbomber Fort Lauderdale zu einem Routineflug bei gutem Wetter verlassen. Keiner von ihnen war je zurückgekehrt. Ein hinterhergeschicktes Wasserflugzeug verschwand ebenfalls. Kein Wunder, dass man im Laufe von über hundert Jahren die wildesten Theorien aufgestellt hatte, was die Ursache
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