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Ein bisschen schwanger

Ein bisschen schwanger

Titel: Ein bisschen schwanger
Autoren: K Dunker
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Die letzte Nacht I
    2. November
    Ich muss wach bleiben. Ich habe nicht mehr viel Zeit. Das ist die letzte Nacht.
    »Drüber schlafen« kann ich mir jetzt nicht mehr leisten. Jetzt sind verschlafene Minuten verschenkte Minuten. Es heißt denken … und entscheiden.
    Drüben im Wohnzimmer läuft der Fernseher, aber ich weiß, dass sie nicht hinsehen. Sie reden auch nicht miteinander. Sie starren auf den Bildschirm und fragen sich, was ich wohl tue.
    Manchmal steht einer von ihnen auf und blickt durch die geöffnete Wohnzimmertür über den schmalen Flur auf meine geschlossene Tür. Dann sagt der andere, ohne von der sinnlos flimmernden Mattscheibe aufzusehen: »Setz dich wieder hin.«
    So verbringen sie Stunden. Vielleicht haben sie sich wie ich vorgenommen, diese Nacht aufzubleiben. Aber wahrscheinlich haben sie sich gar nichts mehr vorgenommen. Sie sind am Ende ihrer Kräfte. Jetzt starren sie nur noch.
    Meine Eltern sind mir egal, sie sind keine Hilfe für mich. Nicht dass ich wütend auf sie wäre, sie sind verantwortlich für mich – aber nicht schuld an meiner Lage.
    Schuld hat niemand, nicht einmal Patrick.
    Ich hebe die Kaffeetasse von der Fensterbank. Wenn jede Minute zählt, sollte man wohl schnellere Bewegungen machen.
    Ich aber mache es genau umgekehrt. Sehe mir die Tasse an, bevor ich daraus trinke. Natürlich benutze ich sie seit Jahren, aber jetzt heißt es, die Dinge mit anderen Augen zu sehen.
    Mein Name steht auf dem Porzellan, mein Sternzeichen und meine durch die Astrologie vorbestimmten Eigenschaften. Zwillinge, heißt es da, seien empfindlich, launisch und egoistisch. Das Letzte, sagen manche, träfe besonders auf mich zu.
    Auf das, was andere über mich sagen, sollte ich pfeifen.
    Ich vereine so viel in mir, dass nicht mal ich selbst weiß, was ich bin.
    Meine Stimme ist zum Beispiel so leise, dass meine Mitschüler schon genervt aufstöhnen, wenn mich ein Lehrer nur aufruft. Trotzdem bin ich kein schüchternes Mädchen. Wenn ich etwas will, bekomme ich es auch. Nicht immer sofort, wie die eineinhalb Jahre mit Patrick gezeigt haben. Aber irgendwann doch.
    Der Kaffee ist lauwarm und schmeckt so wie die Gespräche, die ich mit meinen Eltern geführt habe: abgestanden. Stundenlang saßen wir zusammen am Küchentisch, die Luft im Raum wurde immer schlechter, meine Mutter weinte, mein Vater schimpfte und entschuldigte sich, ich sagte Ja und sagte wieder Nein. Der Kaffee stand bei solchen Gesprächen die ganze Zeit unberührt auf dem Tisch. Fliegen ertranken darin und die Milch wurde flockig. Wir machten weiter, bis wir vor Müdigkeit blinzelten und von den Stühlen rutschten.
    Sie würden es auch heute Nacht fortsetzen, wenn ich sie darum bäte. Aber das habe ich nicht vor. Ich will allein sein.
    Eins habe ich wirklich begriffen, in entscheidenden Situationen ist man letztendlich immer allein.
    Das hört sich verdammt trübsinnig an, dabei bin ich alles andere als ein trauriger Mensch. Gut, ich träume manchmal schlecht und schreie im Schlaf. Außerdem bin ich misstrauisch, ich bin eine, die, wenn sie eine fremde Wohnung betritt, zuerst guckt, ob sich irgendwo ein Fluchtweg bietet. Auch bin ich ängstlich, jetzt in der dunklen Jahreszeit traue ich mich kaum allein vors Haus und bis zur Mülltonne. Aber dafür habe ich gute Gründe. Natürlich gehören auch Einbildung und Hysterie dazu, aber alles in allem handelt es sich um eine durchaus berechtigte Furcht.
    Und als wäre das nicht genug, bin ich auch noch in einer schrecklichen Situation, ich bewege mich in einem Alptraum, dessen Höhepunkt noch auf mich wartet. Wenn ich nur daran denke, verschütte ich den Kaffee, weil ich so zittere.
    Aber ich bin trotzdem ein fröhlicher Mensch!
    Und ich liebe!
    Ich stelle die Tasse ab, trete auf den dunklen Balkon vor meinem Zimmer hinaus und lege den Kopf in den Nacken.
    In den letzten Monaten ist viel zu viel passiert. Wie Sterne leuchten manche Begebenheiten in meinem Gedächtnis auf. Wenn man ins Universum hinaufsieht, merkt man, wie weit sie weg sind. Die Sterne, die Tage, die Nächte.
    Diese Nacht wird auch bald vorbei sein. Nach ihr erwartet mich eine Spritze und das, was die Mediziner »einen kleinen Eingriff« nennen.
    Ich versuche mir einzureden, dass ich keine Angst habe.
    Ich versuche mir einzureden, dass ich genau weiß, was ich will.
    Ich muss auf jeden Fall genau wissen, was ich will.
    Ich muss mich übergeben.
    Würgend befördere ich den Kaffee in einen Blumenkasten. Die schönen Stauden werden
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