Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Das Echo der Flüsterer

Titel: Das Echo der Flüsterer
Autoren: Ralf Isau
Vom Netzwerk:
jenen Tagen geschehen war, als die Welt an einem Abgrund stand. All diese dummen Zufälle! Ein Flugzeug, das sich in den sowjetischen Luftraum verirrte. Ein Sabotageteam, das auf Kuba eindrang. Kriegslüsterne Militärs, die selbst dann noch eine Invasion der Insel verlangten, als Chruschtschow längst eingelenkt hatte. An jeder dieser Klippen hätte die Sache der Flüsterer scheitern können, mit der Folge eines schrecklichen Atomkrieges. Nein, es war wohl eher Glück oder, wie Großvater sagte, Gottes Hand gewesen, die das Schlimmste verhindert hatte.
    Einer der Alligatoren ließ sich langsam in das Wasser gleiten. Bald waren nur noch seine Augen und die Nasenlöcher zu erkennen. Er beobachtete Jonas, aber nicht wie ein Jäger, eher schon wie jemand, der einen alten Nachbarn beäugt, der für längere Zeit weg gewesen ist.
    Was wohl Macky, der Gorrmack, jetzt machte? Ob er im Land der Bonkas lebte? Jonas zog seine Kette mit dem Freundschaftsstein unter dem Hemd hervor, gerade so weit, dass er sie im Ausschnitt betrachten konnte. In dem grünen Kristall brach sich glitzernd das Sonnenlicht. Ein paarmal in den letzten Tagen hatte Jonas eine Welle warmer Gefühle gespürt und sich gefragt, ob es Darina war, die ihm diese Botschaft sandte. Sicher ging es ihr gut. Nein, er wusste, dass es ihr gut ging.
    Völlig überraschend legten sich von hinten zwei kühle Hände über Jonas’ Augen und eine glockenhelle Stimme fragte: »Bist du der Prinz, der gekommen ist, um seine Prinzessin vor dem Drachen zu retten?«
    Der Kristall entglitt seinen Fingern und rutschte in den Hemdausschnitt zurück. Ein Prickeln lief über Jonas’ Rücken. Er wagte sich nicht zu bewegen. Diese zarte Berührung, diese weiche Stimme – das alles war wie ein wunderschöner Traum.
    »Ich… ich k-kenne dich«, stotterte er unbeholfen.
    »Das will ich doch hoffen«, sagte das Mädchen ernst. Aber es war ihm anzuhören, dass es viel lieber gekichert hätte.
    Jonas war wie gelähmt. Einen Moment überlegte er, ob der Himmelsstein ihm einen Streich spielte. War er flugs zurück nach Azon versetzt worden? Nein, Unsinn. Aber diese kühlen trockenen Hände waren auch keine Illusion. Er beschloss zu wagen, wozu sein Herz ihm riet. Langsam öffnete Jonas wieder den Mund. Seine Zunge war trocken wie eine Alligatorschuppe in der Sonne. Doch das eine Wort brachte er trotzdem über die Lippen.
    »Lydia?«
    Ein herrliches Lachen erhob sich wie ein bunter Vogel in den Wald. »Erraten, du hast mich also nicht vergessen!« Die Hände lösten sich und ein Vorhang aus goldenem Haar fiel über Jonas’ Gesicht.
    Das war nun wirklich zu viel für ihn. Der Junge drehte sich um und starrte ungläubig in Lydia Gustavsons ebenmäßiges Gesicht. Ihre himmelblauen Augen strahlten ihn an, so lebendig, als hätten sie nie einen Tag der Trauer gesehen.
    »Lydia, Lydia.« Endlich funktionierte Jonas’ Stimme wieder. »Wo bist du nur all die Jahre gewesen? Ich habe dir geschrieben, dich gesucht. Du warst einfach wie vom Erdboden verschluckt.«
    Das Mädchen balancierte auf dem Himmelsstein um Jonas herum und setzte sich schließlich neben ihn. Jonas stellte fest, dass sie gewachsen war. Obwohl noch immer anmutig wie eine Elfe, befanden sich ihre Augen nun beinahe gleichauf mit den seinen.
    »Ich war sehr krank, Jonas«, erklärte sie leise. »Nachdem meine Mutter gestorben war, ist mit mir etwas Merkwürdiges passiert. Alles erschien mir wie ein langer dunkler Traum. Ich kann mich kaum mehr an irgendetwas erinnern. Mein Vater suchte lange nach einem Arzt, den er mit dem wenigen Geld, das ihm nach Mutters Tod noch geblieben war, bezahlen konnte. Dann, es war Anfang Oktober, erwachte ich plötzlich – eben wie aus einem langen, tiefen Schlaf.«
    »So wie Darina«, murmelte Jonas, mit glasigen Augen in das grüne Wasser blickend.
    »Was hast du eben gesagt?«
    »Ich wünschte, ich hätte dich geweckt.«
    »Aber hast du das denn nicht?«
    Jonas sah verwundert in Lydias strahlende Augen. »Wie meinst du das?«
    »Als ich wieder zu mir kam, warst du mein erster Gedanke. Ich habe seither oft darüber nachgedacht. Ständig habe ich mich gefragt, warum es nicht meine Mutter gewesen ist, die mir zuerst in den Sinn kam, oder mein Vater. Zuletzt bin ich zu dem Schluss gekommen, dass es unsere Freundschaft gewesen sein muss – deine Liebe –, die mich in das Leben zurückholte.«
    Jonas’ Finger lösten sich von dem Kristall unter seinem Hemd und wanderten zu ihrer Hand.
    »Ja, Lydia.
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher