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Das dunkle Lied des Todes

Das dunkle Lied des Todes

Titel: Das dunkle Lied des Todes
Autoren: Bjarne Reuter
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sich der Magen zusammen, als wir nach Sofienlund gingen. Wir gingen in einer langen Reihe, Vanessa an der Spitze.«
    Vanessa redete mit ihrem zarten Stimmchen weiter.
    »Wir trugen alle Weiß. Die Mädchen hatten weiße Kleider mit hellroten Schleifen, und die Jungen Strohhüte mit roten Seidenbändern. Wir hatten Picknickkörbe mitgebracht und aßen mittags im Schlosspark. Danach gingen wir hinaus auf die Aussichtsklippe. Wir gingen im Gleichschritt in einer langen schnurgeraden Reihe. Frau Wagner nannte uns ihre kleinen Handpuppen. Sie war an diesem Tag gut gelaunt, und wenn sie gut gelaunt war, dann waren auch die Handpuppen gut gelaunt. Erst sangen wir einen Choral, dann nahm Frau Wagner das Tuch ab und sah sich in der Runde um. Heute, sagte sie, heute ist Johan die Blinde Kuh. Denn Johan hat geschwänzt.«
    Johan fuhr mit monotoner Stimme fort:
    »Ich sagte, ich wollte nicht die Blindekuh sein. Frau Wagner sagte, so seien die Regeln. Ich sagte, ich könnte das nicht verstehen, ich hätte doch nicht geschwänzt. Filip sagte, niemand von uns hätte geschwänzt, und Betty sagte, wir seien jetzt zu groß, um Blindekuh zu spielen.«
    Betty räusperte sich und sagte:
    »Soll das heißen, dass ihr nie wieder schwänzen werdet?«, fragte Frau Wagner. Und wir antworten, dass wir nie wieder schwänzen würden, wir würden nie wieder das Üben versäumen und würden alle ihre Erwartungen erfüllen. Ja dann, sagte Frau Wagner, dann werde ich die Blinde Kuh für den Monat Mai sein, und Gott strafe euch, wenn ihr euer Versprechen nicht haltet, denn Gott ist mein Zeuge. Dann reichte sie Tineke das Tuch.«
    »Ich band es fest«, sagte Tineke, »es saß ganz straff um ihre Augen. Danach drehten wir sie herum, bis ihr so schwindlig war, dass sie fast umgefallen wäre. Aber ehe sie fiel, packte Anders sie.«
    »Ich packte sie«, sagte Anders, »und drehte sie um, sodass sie vor dem Abgrund stand. Julius rief ihren Namen.«
    »Wir riefen alle ihren Namen«, flüsterte JB, »Frau Wagner war verwirrt und wir sahen sie auf den Abgrund zutaumeln.«
    »Sie stand mit dem Rücken zu uns«, sagt Vibe. »Das Gesicht in die Sonne gekehrt und die Arme ausgestreckt. Sagt es mir, sagte sie, sagt es im Chor: Den Himmel, aber nicht das Gemüt wechseln die, die über das Meer fahren.«
    »Alle Handpuppen gingen auf sie zu«, sagte jetzt Thomas. »Und als sie den Spruch auf Latein und dann auf Dänisch aufgesagt hatten, stießen sie sie über den Klippenrand. Es war nur ein kleiner Puff. Dann war sie weg.«
    Gustav starrte den Tisch an. »Endlich war sie weg.«
    »Ganz weg«, flüsterte Julius.
    »Wir warteten«, sage Filip. »Warteten darauf, dass irgendetwas passierte. Aber es passierte nichts. Bis Franz sagte, dass wir das Tuch holen müssten.«
    »Ich sagte, das sei sicher eine gute Idee«, murmelte Anders.
    Johan schaute auf.
    »Ich lief zur Kante und sprang ins Wasser. Es war nichtsehr tief. Höchstens ein paar Meter. Sie lag auf dem Bauch, aber ich konnte sofort sehen, dass sie tot war, deshalb band ich das Tuch ab und lief zu den anderen zurück. Wir standen um das Tuch herum. JB schlug vor, es zu verbrennen.«
    »Aber es war zu nass«, murmelte Julius. »Es war zu nass, um zu brennen. Deshalb schoben wir die Sache auf, denn wir konnten uns nicht einigen, wer es tun sollte. Betty sagte, wir müssten in der Schule anrufen. Tineke hatte ihr Handy bei sich.«
    »Wir überlegten, was Tineke sagen sollte«, sagte Anders.
    »Ich rief im Büro an«, sagte Tineke, »und sagte Frau Astrup, dass Frau Wagner von der Aussichtsklippe ins Wasser gefallen war. Frau Astrup alarmierte Polizei und Feuerwehr.«
    Betty sah Eva an.
    »Eine Woche später wurde Frau Wagner begraben. Wir waren alle dabei. Wir sprachen nicht miteinander, aber auf dem Heimweg vom Friedhof sagte Anders   …«
    »…   man ersetzt einen Stein durch einen anderen«, murmelte Anders. »Später machten wir ab, Frau Wagners Tuch zwischen uns wandern zu lassen. Und uns dreimal im Jahr an ihrem Grab zu treffen. Nämlich im Oktober, im Februar und im Mai, und wenn wir alle das Tuch gehabt hätten, sollte es verbrannt werden. Vanessa bekam es als Letzte.«
    »Ich hatte es seit Monaten«, sagte Vanessa, »aber ich konnte es nicht über mich bringen. Es war das Letzte,was von Frau Wagner noch übrig war. Ich konnte es nicht verbrennen.«
    Anders schob seinen Stuhl zurück.
    »Aber jetzt können wir’s«, sagte er.
    Vanessa öffnete das Tuch und legte es auf den Tisch.
    Anders riss ein
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