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Das dunkle Lied des Todes

Das dunkle Lied des Todes

Titel: Das dunkle Lied des Todes
Autoren: Bjarne Reuter
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Schiff denselben Namen haben.«
    »Aber ich will nicht auf der Pemba sein«, rief Gustav.
    Anders sah ihn an.
    »Aber das lässt sich nicht ändern. Wir sind hier, Gustav, alle zusammen, wir sitzen am selben Tisch. Sitzen vor dem Mast, der ihr Segel getragen hat. Wir sind alle zusammen hier.«
    »Moment mal«, brummte Franz. »Was willst du damit sagen?«
    Anders schaute zur Decke hoch und seufzte.
    »Dass wir eine Rechnung begleichen müssen, Franz.«
    Franz kniff die Augen zusammen.
    »Wie ist das denn zu verstehen? Eine Rechnung?«
    »Das ist so zu verstehen, dass noch eine Rechnung offen ist. Etwas, das seit Langem auf uns lastet. Ein Stein, den wir seit zwei Jahren tragen.«
    Franz schlug die Arme übereinander und ließ sich zurücksinken.
    »Ich habe keinen Stein getragen«, sagte er. »Und was dieses Haus angeht, da hab ich keinen Bock mehr. Ich glaube, viele von uns haben keinen Bock mehr. Wir haben genug. Und wenn Anders behauptet, dass wir   …«
    »Ich behaupte gar nichts«, sagte Anders.
    »Was tust du denn sonst?«
    »Ich warte.«
    »Worauf?«
    »Auf Vanessa.«
    Franz sah sich um. »Wo ist die denn?«
    »Auf ihrem Zimmer«, sagte Betty. »Sie wollte etwas holen.«
    Sie hörten Vanessas Schritte auf der Treppe und warteten schweigend darauf, dass die Tür sich öffnete.
    Eva ließ ihren Blick von Anders zu Betty wandern. Eine drückende Stille breitete sich aus. Niemand sagte etwas, niemand rührte sich, niemand sah jemand anderen an. Sie warteten nur darauf, dass die Tür sich öffnete. Hörten Schritte auf der Treppe. Den knackenden Boden in der Halle. Das Geräusch der Türklinke.
    Und da stand sie, die Verletzlichste von allen.
    Das durchsichtige Wunderkind.
    Um den Hals trug sie das Seidentuch.
    Das nicht dort sein dürfte.
    Das hätte verbrannt werden müssen.
    Das tabu war.
    Betty brach das Schweigen als Erste. Sie sagte mit ruhiger, freundlicher Stimme:
    »Anders und ich haben Vanessa gebeten, das Tuch umzubinden«, sagte sie. »Wir finden, es ist an der Zeit, darüber zu sprechen.«
    »Worüber?«, fragte JB.
    »Über alles, Julius. Aber vor allem darüber, worüber wir niemals reden. Nämlich das Tuch, und wie es zu uns gekommen ist. Danach können wir das tun, was wir verabredet haben. Es verbrennen. Hat jemand etwas dagegen, dass wir darüber reden? Dann sagt es lieber gleich.«
    Keine Reaktion.
    Betty räusperte sich.
    »Dann fassen wir einander ein letztes Mal an den Händen.«
    Eva starrte Anders, Gustav, Tineke und Julius an, die einander an den Händen fassten. Thomas, Vibe, Vanessa, Johan, Filip, Franz und Betty taten es ihnen nach. Leise psalmodierten sie: »Caelum non animum mutant qui trans mare currunt! Den Himmel, nicht das Gemüt wechseln die, die über das Meer fahren.«
    Danach ließen sie einander los und wirkten seltsam einsam, fast verloren, weil der Kreis gebrochen war.
    Eva spürte ihre Nervosität wie ein Zittern im Zwerchfell. Vor sich sah sie eine unendliche Anzahl von Türen, die sich öffneten und zu einem kleinen schwarzen Brennpunkt wurden   – einem Ziel und einem Weg, den sie gehen musste. Die Tür zu einer geheimen Loge war geöffnet.
    Betty hob den Blick und sprach mit tonloser, aber sicherer Stimme, als habe sie auf diesen Augenblick gewartet, habe die richtigen Wörter einstudiert.
    »Das hat Frau Wagner gehört«, sagte sie. »Es war Frau Wagners Seidentuch. Sie trug es immer, wenn wir nach Sofienlund gefahren sind. Es war natürlich vor allem zur Zier, aber es hatte auch eine andere Funktion. Wir machten dreimal im Jahr einen Ausflug, im Oktober, zu Lichtmess und Ende Mai. Jedes Mal suchte Frau Wagner eine Blinde Kuh aus, der die Augen verbunden wurden. Die Wahl war nicht zufällig, denn immer wurde ausgesucht, wer in der Schule am wenigsten geleistet hatte. Wenn der Blinden Kuh die Augen verbunden worden waren, wurde sie umgedreht, bis sie das Gleichgewicht verlor und vor Frau Wagners Füßen im Kies lag, wo sie gelobte, nie wieder die Schule zu schwänzen. Es war fast allen von uns passiert, aber meistens fiel es auf Gustav, Julius oder mich. Es war schrecklich, das Tuch um die Augen zu haben, entsetzlich, mit dem Wissen auf der Aussichtsklippe zu stehen: Heute muss ich vielleicht die Blinde Kuh sein.«
    Betty verstummte und sah Eva an.
    »Aber an diesem Tag vor zwei Jahren hatten wir ausgemacht, dass wir nicht mehr mitmachen wollten. Dass nie wieder irgendwer die Blinde Kuh sein sollte. Ausnahmsweise waren wir einmal einer Meinung. Uns allen krampfte
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