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Das dunkelste Blau

Das dunkelste Blau

Titel: Das dunkelste Blau
Autoren: Tracy Chevalier
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was sie da tat, und es gelang ihr gerade noch, innezuhalten, ohne das Kreuz zu vollenden. Sie sah sich um, ob ihre Geste bemerkt worden war. Aber ihre Nachbarn hatten die Augen auf Monsieur Marcel gerichtet, der zwischen ihnen hindurch schritt und weiter den Berg hinauf in Richtung der dunklen Wolke, die gelbbraunen Hände hinter sich verschränkt. Er blickte nicht zurück.
    Als er weg war, wurde die Menge lauter, erregter. Jemand rief: Das Fenster! Der Ruf wurde wiederholt. Über der Tür hielt ein kleines rundes Fenster das einzige Stück Glas, das sie jemals gesehen hatten. Der Duc de l’Aigle hatte es vor drei Sommern unterhalb der Nische angebracht, kurz bevor er durch Calvin von der Wahrheit berührt worden war. Von außen hatte das Fenster ein mattes Braun, aber von innen war es grün und gelb und blau, mit einem winzigen roten Punkt mitten in Evas Hand. Die Sünde. Isabelle war lange nicht mehr in der Kirche gewesen, aber sie erinnerte sich gut an die Szene, Evas wollüstigen Blick, das Grinsen der Schlange, Adams Scham.
    Wenn sie es noch einmal hätten sehen können, wenn die Sonne die Farben gleich einem mit Sommerblumen übersäten Feld aufleuchten ließ, vielleicht hätte seine Schönheit es gerettet. Aber da war keine Sonne, und auch kein Hineinkommen in die Kirche: Der Priester hatte ein großes Vorhängeschloß durch den Riegel über der Tür geschoben. Sie hatten so etwas noch nie gesehen; mehrere Männer hatten es untersucht, daran gezogen, waren aber nicht sicher, wie es funktionierte. Eine Axt müßte man benutzen, vorsichtig, um es nicht zu beschädigen.
    Nur das Wissen um den Wert des Fensters hielt sie zurück. Es gehörte dem Duc, dem sie ein Viertel ihrer Ernte schuldeten,wofür sie Schutz von ihm erhielten, ein Flüstern in des Königs Ohr. Das Fenster und die Statue waren seine Geschenke. Er mochte sie noch immer schätzen.
    Niemand wußte genau, wer den Stein warf, obwohl hinterher mehrere Leute behaupteten, daß sie es gewesen seien. Er traf die Mitte des Fensters und zerbrach es. Es gab ein so seltsames Geräusch, daß die Menge verstummte. Sie hatten noch nie Glas splittern gehört.
    In die Stille hinein rannte ein Junge und hob eine Glasscherbe auf, heulte auf und warf sie weg.
    – Es hat mich gebissen! schrie er, einen blutigen Finger hochhaltend.
    Das Rufen hob wieder an. Die Mutter des Jungen riß ihn an sich und drückte ihn. – Der Teufel! schrie sie. Es war der Teufel!
    Etienne Tournier, der Haare wie verbranntes Stroh hatte, trat mit einem langen Rechen hervor. Er blickte zurück zu seinem älteren Bruder Jacques, der nickte. Etienne sah zur Statue hinauf und rief laut: – La Rousse!
    Die Menge geriet in Bewegung, alle traten zur Seite, und Isabelle stand allein. Etienne drehte sich mit einem Grinsen im Gesicht nach ihr um, und seine blaßblauen Augen ruhten auf ihr wie Hände, die sich in ihren Körper preßten.
    Er ließ die Hand am Stiel hinabgleiten und hob den Rechen, dann ließ er die Zähne in ihrer Richtung herunterfallen und vor ihrem Gesicht schweben. Sie starrten einander ins Gesicht. Die Menge war still geworden. Schließlich packte Isabelle die Zähne; als sie und Etienne die beiden Enden des Rechens hielten, fühlte sie ein Feuer, das sich unterhalb ihrer Magengrube entzündete.
    Er lächelte und ließ los; sein Ende schlug auf den Boden. Isabelle griff nach dem Stiel und ließ ihre Hände daran herunterwandern, bis das Ende mit den Zähnen hoch in die Luft ragte, bis sie den Himmel erreichte. Als sie zur Jungfrau sah, machte Etienne einen Schritt zurück und verschwand von ihrerSeite. Sie fühlte den Druck der Menge, wieder zusammengedrängt, unruhig, summend.
    – Mach schon, La Rousse! rief jemand. Mach schon!
    Irgendwo in der Menge standen Isabelles Brüder und starrten zu Boden. Sie konnte ihren Vater nicht sehen, aber selbst wenn er da war, konnte er ihr nicht helfen.
    Sie tat einen tiefen Atemzug und hob den Rechen. Ein Ruf stieg gleichzeitig auf und ließ ihren Arm zittern. Sie stützte die Zähne des Rechens links von der Nische auf und sah in der Masse der glänzenden roten Gesichter umher, die jetzt fremd, hart und kalt erschienen. Sie hob den Rechen, stieß ihn gegen den Sockel der Statue und schob. Die Statue bewegte sich nicht.
    Das Rufen wurde lauter, als sie begann, heftiger zu stoßen; Tränen brannten ihr in den Augen. Das Kind sah in den fernen Himmel, aber Isabelle fühlte den Blick der Jungfrau auf sich.
    – Vergib mir, flüsterte sie. Dann
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