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Das dunkelste Blau

Das dunkelste Blau

Titel: Das dunkelste Blau
Autoren: Tracy Chevalier
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langsamer hinterher. Die anderen Dorfkinder folgten zuerst flüsternd mit einigem Abstand. Schließlich rannte ein Junge zu Isabelle, dreist vor Neugierde, und grapschte nach einer Haarsträhne.
    – Hast du ihn gehört, La Rousse? Du bist unrein! rief er.
    Isabelle schrie auf. Petit Henri und Gérard sprangen zu ihrer Verteidigung herbei, froh, sich endlich nützlich machen zu können.
    Am nächsten Tag begann Isabelle ein Kopftuch zu tragen und band damit jede kastanienfarbene Strähne weg, lange vor anderen Mädchen ihres Alters.
    Als Isabelle vierzehn Jahre alt war, wuchsen zwei Zypressen an einer sonnigen Stelle in der Nähe des Hauses. Jedesmal machten sich Petit Henri und Gérard auf den Weg bis Barre-les-Cévennes, ein Zweitagesmarsch, um sie auszusuchen.
    Der erste Baum war der von Marie. Ihr Bauch wuchs so sehr, daß alle Frauen im Dorf dachten, sie müsse Zwillinge tragen; aber Mamans prüfende Hände fühlten nur einen Kopf, wenn auch einen großen. Maman sorgte sich wegen der Größe des Kopfes.
    – Wenn es nur Zwillinge wären, murmelte sie Isabelle zu. Dann wäre es einfacher.
    Als es soweit war, schickte sie alle Männer weg: Ehemann, Vater, Brüder. Es war eine eiskalte Nacht, ein heftiger Wind blies Schneeböen gegen die Klumpen leblosen Roggens. Die Männer zögerten, das Feuer zu verlassen, bis sie Maries ersten Schrei hörten: Sie waren starke Männer, die an die Laute von Schweinen während des Schlachtens gewöhnt waren – dieser menschliche Klang vertrieb sie schnell.
    Isabelle hatte ihrer Mutter auch zuvor schon bei Geburten geholfen, aber immer im Beisein anderer Frauen, die zum Singen und Geschichtenerzählen kamen. Die waren nun wegen der Kälte weggeblieben, und sie und Maman waren allein. Sie blickte auf ihre Schwester, die, mit Tüchern bedeckt, unbeweglich unter ihrem riesigen Bauch lag, fröstelte und schwitzte und schrie. Das Gesicht ihrer Mutter war angstvoll angespannt; sie sprach wenig.
    Die ganze Nacht über hielt Isabelle Maries Hand, drückte sie während der Wehen und wischte ihr die Stirn mit einem feuchten Tuch. Still betete sie zur Jungfrau Maria und zur heiligen Margareta, ihre Schwester zu beschützen. Sie fühlte sich schuldig dabei: Monsieur Marcel hatte ihnen gesagt, daß die Jungfrau und alle Heiligen machtlos seien und nicht angerufen werden sollten. Keines seiner Worte tröstete sie jetzt. Nur die alten Gebete hatten Wirkung.
    – Der Kopf ist zu groß, verkündete Maman schließlich. Wir müssen schneiden.
    – Non, Maman, flüsterten Marie und Isabelle gleichzeitig. Maries Augen waren angstvoll geweitet. Verzweifelt begann sie erneut zu pressen, schreiend und keuchend. Isabelle hörte das Geräusch von reißendem Fleisch; Marie stieß einen Schrei aus, bevor sie schlaff und grau wurde. Der Kopf erschien in einem Blutstrom, schwarz und verformt, und als Maman das Baby herausholte, war es bereits tot, die Nabelschnur eng um den Hals gewunden. Es war ein Mädchen.
    Die Männer kamen zurück, als sie das Feuer sahen, Rauch von dem blutigen Stroh, der in Schwaden in die Morgenluft aufstieg.
    Sie begruben Mutter und Kind an einer sonnigen Stelle, wo Marie gerne gesessen hatte, wenn es warm war. Die Zypresse wurde über ihrem Herzen gepflanzt.
    Das Blut hinterließ eine blasse Spur auf dem Fußboden, kein Wischen oder Schrubben konnte sie ganz beseitigen.
    Der zweite Baum wurde im folgenden Sommer gepflanzt.
    Es war dämmrig, die Stunde der Wölfe; keine gute Zeit für Frauen, alleine unterwegs zu sein. Maman und Isabelle waren bei einer Geburt in Felgérolles gewesen. Mutter und Kind hatten beide überlebt und damit die lange Kette des Sterbens durchbrochen, die mit Marie und ihrem Baby begonnen hatte. An diesem Abend waren sie noch etwas geblieben, hatten es der Mutter und dem Baby bequem gemacht, während sie den anderen Frauen beim Singen und beim Schwatzen zuhörten, so daß die Sonne hinter dem Mont Lozère verschwunden war, als Maman alle Warnungen und Einladungen, über Nacht zu bleiben, in den Wind schlug und sie sich auf den Weg nach Hause machten.
    Der Wolf lag quer über dem Weg, als hätte er auf sie gewartet. Sie blieben stehen, ließen ihre Bündel zu Boden gleiten und bekreuzigten sich. Der Wolf bewegte sich nicht. Sie beobachteten ihn einen Augenblick lang, dann hob Maman ihr Bündel auf und ging einen Schritt auf ihn zu. Der Wolf stand nun, und Isabelle konnte sogar in der Dunkelheit sehen, daß er sehr dürr war und räudiges graues Fell hatte. Seine
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