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Das dunkelste Blau

Das dunkelste Blau

Titel: Das dunkelste Blau
Autoren: Tracy Chevalier
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er sie freigegeben hatte, stand sie wacklig auf. Das Pergament war gegen ihre Wange gedrückt worden und flatterte nun zu Boden. Etienne sah ihr ins Gesicht und grinste.
    – Du hast deinen Namen im Gesicht stehen, sagte er.
    Sie war noch nie auf dem Bauernhof der Tourniers gewesen, obwohl er ganz in der Nähe vom Hof ihres Vaters lag, wenn man unten am Fluß entlangging. Er war der größte Hof in der ganzen Gegend nach dem des Duc, der weiter unten im Tal lebte, einen halben Tagesmarsch in Richtung Florac. Angeblich war er vor über hundert Jahren gebaut worden; verschiedene Ergänzungen kamen mit der Zeit hinzu: ein Schweinestall, eine Tenne, ein Ziegeldach, das das Strohdach ersetzte. Jean und seine Cousine Hannah hatten spät geheiratet, hatten nur drei Kinder und lebten maßvoll, einflußreich und zurückgezogen. Abendbesuche an ihrem Herd waren selten.
    Trotz ihres Einflusses hatte Isabelles Vater nie über ihre Arroganz geschwiegen.
    – Sie heiraten ihre Vettern, spottete Henri du Moulin. Sie geben der Kirche Geld, aber sie würden nicht mal eine verschimmelte Kastanie an einen Bettler abgeben. Und sie tauschen drei Küsse, als ob zwei nicht genug wären.
    Der Hof dehnte sich L-förmig an einem Hang aus, der Eingang befand sich da, wo die beiden Flügel aufeinandertrafen, und war nach Süden gerichtet. Etienne führte sie hinein. Seine Eltern und zwei Tagelöhner waren auf dem Feld; seine Schwester Susanne arbeitete am Ende des Küchengartens.
    Drinnen war alles ruhig. Isabelle konnte nur das gedämpfte Grunzen der Schweine hören. Sie bewunderte den Stall und die Scheune, die doppelt so groß war wie die ihres Vaters. Sie stand in der Stube, berührte den langen hölzernen Tisch leicht mit den Fingerspitzen, wie um ihr Gleichgewicht wiederzufinden. Der Raum war sauber, frisch gewischt, Töpfe hingen in gleichmäßigen Abständen an Haken an den Wänden. Die Feuerstelle war so groß, daß ihre eigene Familie und die Tourniers zusammen um sie herumpassen würden – ihre ganze Familie, bevor sie sie zu verlieren begann. Ihre Schwester tot. Ihre Mutter tot. Ihre Brüder Soldaten. Nur noch sie und ihr Vater waren übrig.
    – La Rousse.
    Sie drehte sich um, sah Etiennes Blick, seinen großspurigen Schritt, und wich zurück, bis der Stein ihren Rücken berührte. Er folgte ihr und legte seine Hände auf ihre Hüften.
    – Nicht hier, sagte sie. Nicht im Haus deiner Eltern, vor dem Kamin. Wenn deine Mutter –
    Etienne ließ die Hände fallen. Schon die Erwähnung seiner Mutter zähmte ihn.
    – Hast du sie gefragt?
    Er schwieg, ließ die breiten Schultern sinken und starrte in eine Ecke.
    – Du hast sie nicht gefragt.
    – Ich bin bald fünfundzwanzig, und dann kann ich tun, was ich will. Ich werde ihre Erlaubnis nicht brauchen.
    Natürlich wollen sie nicht, daß wir heiraten, dachte Isabelle. Meine Familie ist arm, wir haben nichts, aber sie sind reich, sie haben eine Bibel, ein Pferd, sie können schreiben. Sie heiraten ihre Vettern, sie sind mit Monsieur Marcel befreundet. JeanTournier ist der syndic des Duc de l’Aigle, er treibt unsere Steuern ein. Sie würden niemals ein Mädchen, das La Rousse genannt wird, als ihre Tochter akzeptieren.
    – Wir könnten bei meinem Vater leben, schlug sie vor. Es ist schwer für ihn ohne meine Brüder. Er braucht –
    – Niemals.
    – Dann müssen wir hier leben.
    – Ja.
    – Ohne ihre Zustimmung.
    Etienne verlagerte das Gewicht von einem Fuß auf den anderen, lehnte sich gegen die Tischkante, verschränkte die Arme. Er sah sie direkt an.
    – Wenn sie dich nicht mögen, sagte er leise, ist es deine eigene Schuld, La Rousse.
    Isabelles Arme wurden steif, ihre Hände ballten sich zu Fäusten.
    – Ich habe nichts getan! rief sie. Ich glaube an die Wahrheit.
    Er lächelte.
    – Aber du liebst die Jungfrau, nicht wahr?
    Sie senkte den Kopf, die Fäuste noch geschlossen.
    – Und deine Mutter war eine Hexe.
    – Was hast du gesagt? flüsterte sie.
    – Dieser Wolf, der deine Mutter gebissen hat. Er war vom Teufel geschickt, um sie zu sich zu holen. Und all die Säuglinge, die starben.
    Sie starrte ihn an.
    – Denkst du, meine Mutter wollte, daß ihre eigene Tochter stirbt? Ihre eigene Enkelin?
    – Wenn du meine Frau bist, sagte er, wirst du keine Hebamme sein. Er nahm ihre Hand und zog sie in Richtung der Scheune, weg vom Kamin seiner Eltern.
    – Warum willst du mich? fragte sie so leise, daß er sie nicht hören konnte. Sie beantwortete die Frage selbst: Weil ich die
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