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Das dunkelste Blau

Das dunkelste Blau

Titel: Das dunkelste Blau
Autoren: Tracy Chevalier
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zog sie den Rechen zurück und hieb damit, so heftig sie konnte, auf die Statue ein. Er schlug mit einem dumpfen Klang auf, das Gesicht der Jungfrau war abgeschlagen, die Bruchstücke prasselten auf Isabelle nieder, während die Menge vor Vergnügen kreischte. Verzweifelt schwang sie den Rechen abermals. Der Mörtel löste sich mit dem Schlag, und die Statue schwankte ein wenig.
    – Noch mal, La Rousse! rief eine Frau.
    Ich kann nicht mehr, dachte Isabelle, aber als sie die roten Gesichter sah, schwang sie den Rechen erneut. Die Statue schaukelte, die gesichtslose Frau wiegte das Kind in ihren Armen. Dann stürzte sie vornüber und fiel, der Kopf der Jungfrau schlug zuerst auf dem Boden auf und zersplitterte, dann der Körper. Durch den Aufprall war das Kind von seiner Mutter weggerissen worden und lag auf dem Boden, nach oben blickend. Isabelle ließ den Rechen fallen und bedeckte ihr Gesicht mit den Händen. Es gab laute Jubelrufe und Pfiffe, und die Menge schob sich vorwärts, um die zerbrochene Statue zu umringen.
    Als Isabelle die Hände vom Gesicht nahm, stand Etienne vorihr. Er lächelte triumphierend, streckte die Arme aus und preßte ihre Brüste. Dann gesellte er sich zu den anderen und fing an, Mist gegen die blaue Nische zu werfen.
    Nie wieder werde ich so eine Farbe sehen, dachte sie.
    Es war nicht schwer, Petit Henri und Gérard zu überzeugen. Obwohl Isabelle Monsieur Marcels Überredungskünste verantwortlich machte, wußte sie insgeheim, daß sie ohnehin gegangen wären, auch ohne seine honigsüßen Worte.
    – Gott wird Freude an euch haben, sagte er feierlich. Er hat euch für diesen Krieg erwählt. Kämpft für euren Gott, eure Religion, eure Freiheit. Ihr werdet als mutige und starke Helden zurückkehren.
    – Wenn ihr überhaupt zurückkehrt, murmelte Henri du Moulin wütend, aber es waren Worte, die nur Isabelle hörte. Er hatte zwei Roggenfelder und zwei mit Rüben gepachtet und einen ansehnlichen Kastanienhain. Er hielt Schweine und eine Herde Ziegen. Er brauchte seine Söhne; er konnte das Land nicht bewirtschaften, wenn ihm nur seine Tochter als Hilfe blieb.
    – Ich werde weniger Felder beackern, sagte er zu Isabelle. Nur eins mit Roggen, und ich gebe einen Teil der Herde und ein paar Schweine weg. Dann brauche ich nur ein Rübenfeld, um sie zu füttern. Ich kann wieder mehr Tiere anschaffen, wenn die Zwillinge zurückkommen.
    Sie werden nicht zurückkommen, dachte sie. Sie hatte das Leuchten in ihren Augen gesehen, als sie fortzogen. Sie werden nach Toulouse und nach Paris gehen, und nach Genf, um Calvin zu sehen. Sie werden nach Spanien gehen, wo die Haut der Leute schwarz ist, oder bis zum großen Ozean am Ende der Welt. Aber hierher, nein, hierher werden sie nicht zurückkehren.
    Eines Abends, als ihr Vater eine Pflugschar schliff, nahm sie ihren ganzen Mut zusammen.
    – Papa, sagte sie. Ich könnte heiraten, und wir könnten hier wohnen und mit dir arbeiten.
    Mit einem Wort brachte er sie zum Schweigen.
    – Wen? fragte er, und der Wetzstein hielt über der Klinge inne. Das Zimmer war still ohne das rhythmische Geräusch des Metalls, das gegen Stein schlug.
    Sie wandte ihr Gesicht ab.
    – Wir sind allein, du und ich, ma petite . Sein Ton war sanft. Aber Gott ist freundlicher als du denkst.
    Isabelle umklammerte nervös ihren Nacken, während sie noch den Geschmack des Abendmahls im Mund hatte – hartes, trockenes Brot, das noch in ihrem Hals steckte, lange nachdem sie es heruntergeschluckt hatte. Etienne griff nach ihr und zog an ihrem Kopftuch. Er wand den Zipfel um seine Hand und zog mit einem heftigen Ruck. Sie wirbelte um die eigene Achse, drehte sich aus dem Tuch, ihr Haar löste sich, sie sah abwechselnd Etienne mit einem grimmigen Lächeln im Gesicht, dann die Kastanienbäume ihres Vaters, die Frucht klein und grün und weit entfernt.
    Als das Kopftuch sich ganz gelöst hatte, stolperte sie, gewann ihr Gleichgewicht wieder, zögerte. Sie sah ihm ins Gesicht, trat aber einen Schritt zurück. Mit zwei Schritten war er bei ihr, stürzte sich auf sie, so daß sie stolperte. Mit der einen Hand schob er ihr Kleid hoch, während sich die andere in ihr Haar grub, er zog die gespreizten Finger wie einen Kamm bis zu den Haarenden; schließlich wickelte er das Haar um seine Hand – wie er noch vor einem Moment das Kopftuch darum gewunden hatte –, bis seine Faust in ihrem Nacken ruhte.
    – La Rousse, murmelte er. Du bist mir lange aus dem Weg gegangen. Bist du bereit?
    Isabelle
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