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Das Dornenhaus

Das Dornenhaus

Titel: Das Dornenhaus
Autoren: Di Morrissey
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mit dem Jungen Schritt halten zu können, und lauschte aufmerksam, während er die ehemals prächtigen Ställe und das Torhaus beschrieb. Doch auf den Zauber des indischen Hauses war sie nicht vorbereitet. In einem abgelegenen Teil des Gartens standen sie plötzlich davor. Gebaut auf einer kleinen Anhöhe, doch versteckt hinter Bäumen, schien es einem Bild aus einem alten Märchenbuch entsprungen. Der Miniaturnachbau eines indischen Palastes wirkte fremdartig in dem edwardianischen Garten.
    »Was ist das? Warum steht es hier?« Odette war wie verzaubert und lief die Marmorstufen hinauf.
    »Mein Dad sagt, dass der Mann, der es gebaut hat, auf seiner Hochzeitsreise in Indien war und seiner Frau dort die Paläste und all das so gut gefallen haben. Daher hat er diesen hier für sie gebaut.«
    »Wie romantisch.« Odette betrachtete die kunstvollen Schnitzereien an der Tür. Sie verzog die Nase. »Was ist das für ein Geruch?«
    »Sandelholz. Riech mal.«
    Gehorsam sog sie den Geruch ein, als sie die Tür aufstießen und in das dämmrige Innere traten. Odette schnappte nach Luft. »Oh, das ist ja wunderschön.«
    »Ich kann mich nie daran satt sehen«, flüsterte der Junge. »Schau dir die Wände an.«
    Behutsam ließ Odette ihre Hände über den staubigen Samt gleiten, der mit kleinen glitzernden Spiegelchen besetzt war. Der Samt war an einigen Stellen gebrochen, viele der Spiegel waren abgefallen und hatten schwache Klebstoffspuren in dem Blumenmuster hinterlassen. Die Samtbespannung zog sich bis halb zur Decke hinauf. Darüber und über die ganze Decke breiteten sich Miniaturfresken auf goldgerahmten Tafeln aus: geschmückte Elefanten, Radschas, Tiger, schöne Frauen in seidenen Saris, Affen und prächtige Gärten – exotische Illustrationen aus Mythen und Geschichte.
    Am meisten aber faszinierten Odette die Fenster. Sie bestanden aus winzigen Stücken seltsam geformten Glases in verschiedenen Farben, die sich wie ein glitzerndes Puzzle ineinander fügten. Das Licht, das durch die Fenster auf den weißen Marmorboden fiel, zersplitterte die Myriaden vielfarbiger Fragmente und schuf so den Eindruck eines kunstvollen, funkelnden Teppichs.
    Es gab kaum Möbel, bis auf eine große, quadratische Holzplattform mit hohen Pfosten an jeder Ecke, die einen gewölbten, geschnitzten Baldachin trugen.
    »Ist das ein Bett?«
    »Ich glaube, ja. Leg dich mal drauf und schau nach oben.«
    Mit Hilfe eines kleinen geschnitzten Fußbänkchens kletterte Odette hinauf, streckte sich auf dem Holz aus und schaute mit einem entzückten Lachen nach oben. »Oooh … das ist ja wirklich toll.«
    Der Junge kletterte auch hinauf. Ohne sich etwas dabei zu denken, lagen sie Seite an Seite und schauten hinauf zu dem glitzernden, juwelenbesetzten Nachthimmel, ein Kaleidoskop farbiger Steine.
    »Sind das echte Edelsteine?«, fragte sie staunend.
    »Keine Ahnung. Aber sie funkeln wie echte. Ich glaube, das Gold ist in jedem Fall echt.«
    In kameradschaftlichem Schweigen staunten sie gemeinsam über das Wunder, bevor sie sich aufsetzten und ihre Beine über den Rand des hohen Bettes baumeln ließen.
    »Wie heißt du?«, fragte der Junge.
    »Detty.« Odette war selbst überrascht, dass sie ihm den Kosenamen genannt hatte, mit dem sie zu Hause gerufen wurde. »Und du?«
    »Dean. Das ist nicht mein richtiger Name. Den mag ich nicht.«
    »Dean gefällt mir.«
    Odette kniete sich nieder und legte beide Hände um einen der geschnitzten Pfosten, um zu sehen, ob sich ihre Finger berührten. Sie konnte den Pfosten nicht umspannen.
    »Das ist alles wunderschön.« Sie setzte den Fuß auf den kleinen Schemel und trat hinunter auf den Marmorboden.
    »Soll ich dir ein Geheimnis zeigen?«
    »Gibt es noch mehr?«
    Dean sprang vom Bett und schob den Schemel von Odettes Fuß weg. »Sieh mal hier. Das hab ich zufällig gefunden.«
    Der hölzerne Schemel hatte Klauenfüße und dicke geschnitzte Beine, die wie Baumäste geformt waren. An den Ecken waren grinsende Affenköpfe eingeschnitzt. Aufgestickte Blumen bedeckten die gepolsterte Oberfläche, und vorne war in der Mitte eine große Perle angebracht, umgeben von Staubperlen und Granaten.
    »Meine Güte«, entfuhr es Odette.
    »Ich hab mir die Perle angesehen, und schau …«
    Er fummelte an der Perle und drückte darauf. Der Deckel des Schemels öffnete sich.
    Odette riss staunend den Mund auf. Das Innere war mit rotem Samt ausgeschlagen. Ein dickes Papierbündel war mit einem silbernen Band umwunden, und daneben lag
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