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Das Dornenhaus

Das Dornenhaus

Titel: Das Dornenhaus
Autoren: Di Morrissey
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sich das Lachen und Juchzen einer Familie oder fröhlicher Paare vor, die hier in einer galanteren Epoche geplantscht hatten.
    Rundherum waren die Rasenflächen und Blumenbeete mit Unkraut überwachsen, aber eine Reihe von Sandsteinstufen, begrenzt von dicken Steinbalustraden, führten über die Terrassen hinauf.
    Odette folgte dem Pfad, vorbei an einem versunkenen Garten, in dem ein mit Schimmel überzogener Cherub von Ranken erdrückt wurde. Auf der Seite sah sie eine Art Sockel und schob, neugierig geworden, die hohen Gräser beiseite, um besser sehen zu können.
    Es war eine Sonnenuhr, deren Granitsockel mit Moos und Flechten bewachsen war. Die Bronzescheibe war schwarz und grün vor Alter, genau wie die dreieckige Platte, die senkrecht in der Mitte angebracht war und einen scharfen Schatten in Richtung der römischen Ziffern am Außenrand der Scheibe warf. Unter der Platte war etwas in verschnörkelten Buchstaben eingraviert. Mit dem Ärmel ihres Pullovers rieb Odette den Schmutz ab, bis sie lesen konnte, was da stand.
    Schatten der Vergänglichkeit

zeigen an den Lauf der Zeit
    Ein Schauder überlief sie, während sie die schöne Uhr betrachtete, die lautlos den unaufhaltsamen Lauf der Sonne verfolgte. Wie lange hatte sie hier schon gestanden und die Augenblicke festgehalten? Und welche Ereignisse hatten sich währenddessen hier abgespielt? In diesem Moment fühlte sich Odette mit einer Vergangenheit verbunden, die sie nicht kannte, und mit einer Zukunft, die Ungewisses bereithielt. Staunend legte sie ihre Hand auf die glatte, warme Oberfläche der Sonnenuhr und spürte flüchtig die Vergänglichkeit von Leben und Zeit.
    Lichtfinger huschten über einen schlammigen Teich. Einst hatten hier Wasserrosen geblüht, und ein Springbrunnen hatte glitzerndes klares Wasser in den meergrünen Teich gesprüht. Jetzt enthielt er nur noch ein wenig brackiges Wasser, das die Wurzeln der Seerosen bedeckte. Eine traurige Schönheit ging von ihm aus, und Odette wandte sich ab.
    Über eine Steinmauer strömte überwältigender Rosenduft auf sie ein. Sie bog um eine Ecke und stand plötzlich vor dem Rosengarten. Der Anblick nahm ihr den Atem.
    Kein einfacher Rosengarten, nein, mehr als das, eine ganze Terrasse war mit Rosenbeeten und -lauben bepflanzt, und auch der Abhang dahinter war von Rosen überwuchert. Was einst liebevoll beschnitten und an Spalieren hochgezogen war, wuchs jetzt an einem Wirrwarr aus Farben und Arten durcheinander: Damaszener-, Moschus-, Moos- und Teerosen, Albas, Bourbonen, Gallicas, winzige Banksias, Babyrosen, wilde Rosen und Kletterrosen – alle kämpften in fröhlichem Durcheinander um Licht und Raum.
    Odette betrat einen der Laubengänge, dessen bogenförmiger Eingang von Moschusrosen überwuchert war. Sie bewegte sich durch die mit weißen Blüten übersäten Sträucher hindurch und blieb hin und wieder stehen, um ihren milden, frischen Duft einzuatmen.
    Hinter dem Torbogen bahnte sie sich ihren Weg durch die alten Rosenbeete, die über ihre viktorianischen Beetbegrenzungen aus Schmiedeeisen hinausgewachsen waren. Inmitten eines Rosendickichts konnte sie einen kleinen Metallzaun ausmachen, und über dem Rosengewirr erhob sich ein Marmorengel, dessen Sockel vom Wildwuchs überwuchert war. Seine Flügel waren schützend ausgebreitet, und er sah wie eine verlorene, einsame Gestalt aus, die ein Geheimnis hütete. Die dornigen Rosenbüsche hatten ihre Zweige zu einer undurchdringlichen Barriere verwoben, und Odette ging weiter.
    Jetzt befand sie sich auf der obersten Ebene, wo sich ausladende Eichen und Rasenflächen mit kniehohem Gras bis zu einer Villa hinzogen, deren Türmchen und Schornsteine über dem Grün zu sehen waren. Odettes Sandalen knirschten auf dem Kies im Halbrund der Auffahrt, als sie auf den Vordereingang der verfallenen Villa zuging. Obwohl sie verlassen und vernachlässigt aussah, wirkte sie immer noch beeindruckend. Ehrfurchtsvoll blickte Odette zu der italianisierten Fassade empor. Eingemeißelt über der breiten Doppeltür stand Zanana 1898.
    Auf Zehenspitzen ging sie die Sandsteinstufen hinauf zu der gefliesten Vorhalle unter den korinthischen Säulen, sie setzte die Fersen nicht auf, um kein Geräusch zu machen und die Geister und Geheimnisse im Inneren des Hauses nicht aufzustören.
    Sie schob einen zerbrochenen Fensterladen zur Seite, rieb mit dem zerrissenen Pulloverärmel an dem staubigen Fenster und drückte ihre Nase an das Glas. Im Halbdunkel des Inneren konnte sie wenig
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